# taz.de -- Berliner Theatertreffen: Frei gedacht, mehr gelacht | |
> Das Schauspiel Magdeburg ist mit der Romanadaption „Blutbuch“ zum ersten | |
> Mal in der Geschichte des Hauses zum Berliner Theatertreffen eingeladen. | |
Bild: Die Magdeburger Inszenierung „Blutbuch“ vom Kim de l'Horizon ist beim… | |
Eine Stunde und 46 Minuten mit dem RE1 sind kein Katzensprung, und doch | |
waren wir in den letzten drei Jahren so oft wie nie zuvor in der | |
sachsen-anhaltischen Landeshauptstadt Magdeburg: Dort gibt es seit der | |
Spielzeit 22/23 immer wieder „geiles Theater“, wie | |
[1][Leitungsteam-Mitglied Clara Weyde] vor ein paar Wochen formulierte. | |
Da stand noch nicht einmal fest, dass das Schauspiel Magdeburg dieses Jahr | |
mit der Romanadaption „Blutbuch“ zum zweiten Mal mit einer Inszenierung von | |
Jan Friedrich zum Münchner Festival Radikal Jung eingeladen ist, außerdem | |
zum Heidelberger Stückemarkt und zum ersten Mal in der Geschichte des | |
Hauses [2][zum Berliner Theatertreffen.] | |
Deutsche Stadttheater mit Teamleitungen sind allen | |
Machtmissbrauchsdiskursen zum Trotz immer noch eine Seltenheit. Clara Weyde | |
(Regie), Clemens Leander (Kostüm) und Bastian Lomsché (Dramaturgie) sind | |
zwischen 1983 und 1988 geboren, zwei im Westen, einer im Osten. | |
Sie kennen sich aus Hamburg und wirkten am Ende ihrer ersten Spielzeit | |
selbst ein wenig verblüfft, wie gut sie zusammenarbeiten: „Unser | |
Arbeitsprozess kühlt automatisch ab, man reagiert nicht aus der Defensive | |
heraus, und es liegen einfach mehr Argumente aus drei verschiedenen | |
Perspektiven auf dem Tisch. So kommen wir zu ausgewogenen, sachlichen | |
Entscheidungen“, erklärte Clara Weyde. | |
## Ein Haus mit Fantasie | |
Vor allem aber wollten die drei das Magdeburger Schauspielhaus an der | |
Otto-von-Guericke-Straße „massiv zum Brummen“ bringen. „Wir wollten einen | |
Ort, an dem frei gedacht wird, mehr gelacht wird, wo mehr Fantasie | |
stattfindet, der gleichzeitig auch in die Stadt vernetzt ist.“ | |
Eindrücklich zeigte sich dieses Brummen in der letzten Spielzeit bei einer | |
Vorstellung von [3][Kim de l’Horizons „Blutbuch“]. Der große queere | |
Romanerfolg des Jahres 2022, in dem die nonbinäre Erzählfigur das eigene | |
Coming of Age schildert und dabei tief in die Familiengeschichte der Mütter | |
hinabsteigt, lockt auch nach der Premiere noch viel ebenfalls queeres und | |
quirliges Publikum ins Schauspielhaus. „‚Blutbuch‘ läuft super“, best�… | |
Bastian Lomsché am Telefon. „Dafür reisen manche Leute sogar aus Berlin, | |
Leipzig und Hannover an.“ | |
Die Inszenierung des jungen ostdeutschen Regisseurs Jan Friedrich | |
überrascht mit ihrer Liebe zum Text bei gleichzeitiger Eigenständigkeit: | |
Obwohl die Magdeburger Inszenierung dicht an Kims autofiktionaler Prosa | |
bleibt und deren poetische und popliterarische Tonarten herausstellt, | |
treibt Friedrich das Spiel des Ensembles in immer fluidere Formen. | |
## Kim de l'Horizons „Blutbuch“ | |
Dabei performen sich die Kims seines starken Ensembles mit Live-Video, | |
Halbpuppen und Schrift aus der grauen Welt der Schweizer „Großmer“ | |
(Großmutter), ihren Tabus und Leerstellen heraus. Obwohl immer neue | |
Spielstile den Humor in Kims Schreiben auf der Bühne weiterspinnen, gibt | |
die Inszenierung auch dem Schmerz Raum, der in Kims Familie über | |
Generationen schweigend weitergereicht wurde. | |
„Onkel Werner“ öffnete im vergangenen September einen Schmerzensraum | |
anderer Art. Hier gelang Jan Friedrich eine überraschende Übertragung von | |
Tschechow nach Ostdeutschland: Aus „Onkel Wanjas“ Enttäuschung über den | |
einst bewunderten Schwager Alexander wird Werners wutbürgerlicher Frust | |
über Schwägerin Alexandra, die als linke Politikerin in der Hauptstadt | |
gescheitert ist. | |
Was sie bei ihrer Rückkehr mit einer deutlich jüngeren Geliebten nicht | |
daran hindert, sich gegenüber den Daheimgebliebenen als Checkerin | |
aufzuspielen, die die Familie drängt, ihre Ersparnisse in Bitcoins zu | |
investieren. In Werners blümchentapezierter Container-Pension prallen | |
Weltbilder und Gefühle aufeinander. | |
## In die Stadt Magdeburg hineinwirken | |
„Blutbuch“ und „Onkel Werner“ sind aber auch Beispiele dafür, wie das | |
Leitungsteam mit Stoffen in die Stadt hineinwirken will. Als „extrem mutige | |
Entscheidung“ hat Jan Friedrich den Beschluss der drei bezeichnet, einen | |
schon geplanten Klassiker gegen den Roman auszutauschen, den er gerade | |
begeistert gelesen hatte. „Onkel Werner“ wiederum wird vom Publikum | |
kontrovers diskutiert, ein Publikumsgespräch haben auch mal Rechte zu | |
kapern versucht. | |
Bastian Lomsché denkt schon an die Landtagswahlen 2026, bei denen die AfD | |
in Sachsen-Anhalt über 50 Prozent einfahren will: „Bislang gab es keine | |
direkten Angriffe. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Der Kulturkampf | |
ist ausgerufen, und wir positionieren uns klar dagegen.“ | |
Schon in der ersten Spielzeit hatte das Team versucht, auf Magdeburg als | |
traditionsreichen Industriestandort, als Stadt des Schwermaschinenbaus in | |
der DDR, der Ingenieurs- und Medizinwissenschaften Bezug zu nehmen. „Was | |
die Stimmung hier prägt, ist die Erfahrung verschiedener Enttäuschungen“, | |
hatte Clara Weyde schon 2023 festgestellt. Damals hoffte man auf den Bau | |
einer Chipfabrik des US-Konzerns Intel, den die Ampelregierung mit fast 10 | |
Milliarden Euro bezuschussen wollte. | |
Das Theater Magdeburg ist ein Mehrspartenhaus, das unter dem Schweizer | |
Intendanten Julien Chavaz die besten Auslastungszahlen ever vermeldet. In | |
Bezug auf das Schauspiel schränkt Bastian Lomsché ein, dass die Auslastung | |
bei knapp 75 Prozent liegt. Magdeburg sei eigentlich keine Theaterstadt. | |
Tatsächlich stellt das Schauspielhaus mit nur 200 Plätzen im großen Saal | |
für 240.000 Einwohner:innen ein eher bescheidenes Angebot. | |
Trotzdem ist die Stimmung unter den 90 Mitarbeiter:innen gerade | |
prächtig. „Alles, was wir mit dem Ensemble, dem Haus und dem Wirken in die | |
Stadt versucht haben, hat sich bestätigt und verstetigt“, sagt Lomsché. Die | |
Festival-Einladungen und die überregionale Wahrnehmung seien aber auch für | |
die am Theater wichtig, „die schon vorher da waren und nach uns bleiben | |
werden“. | |
## „Das Floß der Medusa“ | |
Zuletzt feierte am Schauspiel Magdeburg „Das Floß der Medusa“ Premiere. Die | |
französische Fregatte „Medusa“ war 1816 auf kolonialer Beutefahrt, als sie | |
vor der westafrikanischen Küste auf eine Sandbank lief, weil der | |
Befehlshaber lieber inkompetenten Linientreuen statt erfahrenen Seeleuten | |
das Kommando übergab. Die Verantwortlichen retteten sich und ließen 150 | |
Söldner auf einem Floß zurück, von denen nur 15 überlebten – alle anderen | |
starben, wurden ermordet und kannibalisiert. | |
Regisseurin Mirjam Loibl erzählt die Geschichte vom Zivilisationsbruch der | |
Aufklärung nicht historisch-realistisch. Sie übersetzt das Überlieferte in | |
intensive Atmosphären und zeitgenössische Assoziationen. So verwandelt sich | |
das Ensemble aus einem Chor der Kolonialclowns in eine Crew in Orange und | |
„cancelt“ die einzige Stimme der Vernunft. Zwei Schauspieler lösen sich aus | |
der Gruppe und sprechen das Telefonat des Hafenkommandanten mit dem sich | |
verdünnisierenden Kapitän der schiffbrüchigen „Costa Concordia“. | |
Als die Todgeweihten auf dem Floß treiben, verschiebt sich die Inszenierung | |
in Richtung Tanztheater. Stumm verknäulen sich die Spieler ineinander, | |
Gesten der Rettung gehen in Ringkampf, Umarmungen ins Fressen über. | |
„Verlassen von jedem Gesetz“ warten sie auf ihr Ende, bis einer zum | |
Hungermonolog über Moules frites anhebt. | |
Während vom Bühnenhimmel Rauchkringel wie Medusen durch die Tiefsee | |
schweben, wird der Sprecher zur über 200 Jahre alte Muschel, die schon | |
viele Mächtige und Gierige überdauert hat. Auch wenn nicht jedes Bild | |
überzeugt, ist dieses Experiment auf jeden Fall faszinierend genug, um | |
demnächst wieder in den RE1 zu steigen. | |
8 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
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