# taz.de -- „Krieg und Frieden“ am Theater Magdeburg: Kein bisschen Frieden | |
> Mammutroman auf vier Stunden Spielzeit: Charly Hübner gibt am Theater | |
> Magdeburg sein Debüt als Theaterregisseur mit „Krieg und Frieden“ nach | |
> Tolstoi. | |
Bild: Bettina Schneider und Niklas Hummel in „Krieg und Frieden“ | |
„Es wird ein Theaterspektakel“, verspricht Charly Hübner im Gespräch über | |
sein Regiedebüt am Theater Magdeburg. Durch die Türen im Foyer dringen | |
derweil laute Polizeisirenen, die gerade noch im Feinschliff angepasst | |
werden vor der Premiere am Abend. Das mit dem Debüt ist zunächst eine | |
Überraschung, denn Hübner, geboren 1972 in Neustrelitz, [1][hat eigentlich | |
schon alles gemacht.] | |
Als Schauspieler ist er besonders dem Hamburger Schauspielhaus verbunden, | |
hat im Rostocker „Polizeiruf 110“ den Kommissar Bukow gegeben, zu den Bands | |
Feine Sahne Fischfilet und [2][Element of Crime hat er Dokumentarfilme | |
gemacht,] andere Filme gedreht und natürlich Bücher geschrieben. Ein | |
Tausendsassa, aber die Theaterregie fehlte ihm noch. „Ich wollte entweder | |
Schauspieler, Musiker oder Regisseur werden, und beim Ersten hat es dann | |
erst mal am besten geklappt“, sagt er, obwohl er auch als Musiker durch die | |
Republik tourt. | |
Bastian Lomsché, seit 2023 Teil des dreiköpfigen Leitungsteams der | |
Schauspielsparte in Magdeburg und zuvor Dramaturg am Hamburger | |
Schauspielhaus, fragte ihn dann, ob er sich nicht vorstellen könne, in | |
Magdeburg Regie zu führen. Zunächst gab es die Idee zu einem | |
Magdeburgmusical, dann war ein Shakespeare im Gespräch. Aber mit dem | |
Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine war für Hübner klar: Es muss | |
ein russischer Autor sein – und was liegt näher als Lew Tolstois | |
Mammutroman „Krieg und Frieden“? | |
[3][Roland Schimmelpfennig,] ebenfalls ein Bekannter aus Hamburg, hatte den | |
Roman eh schon mal zu einer Version zusammengeschrieben, und so stand der | |
Debütarbeit nichts im Wege, die aber auch gleich in die Vollen geht. „Wir | |
sind zeitlich genau da rausgekommen, wo wir wollten“, sagt Hübner – also | |
bei vier Stunden inklusive Pause. | |
## Slapstick-Kabarett | |
Hübner lässt das Stück ganz im Heute beginnen. Eine Familie trifft sich in | |
einer Plattenbauwohnung, die Bühnenbildner Alexandre Corazzola leicht | |
schief, aber echt mit Mufuti und Wachsdecken in die Kammer 1 gebaut hat. | |
Hier trifft zu Nicoles „Ein bisschen Frieden“ das rechtskonservative | |
Alphamännchen samt Frau auf linke Staatsanwältin und Punk – die Geschwister | |
– und ihre Kinder als HipHopper und Bundeswehrsoldat zusammen, um die | |
(Groß-)Mutter zum 80. Geburtstag zu überraschen. In diesem | |
Slapstick-Kabarett überschlagen sich erst die Ereignisse, und dann | |
erschlägt sich die Familie angesichts unüberbrückbar Differenzen. | |
Alle werden zu Tolstoi-Figuren und müssen erst einmal vorgestellt und in | |
Russland verteilt werden: Du in den Krieg, du aufs Land, du nach Moskau. | |
Auch das Geflecht von Liebschaften und Verheiratungen braucht seine Zeit, | |
bis es voll entwickelt ist. | |
Und da zwar alle im zehnköpfigen Ensemble mehrere Rollen spielen, aber | |
keine doppelt besetzt ist, darf Rainer Frank als zugleich Braut- und | |
Bräutigamsvater schön komisch eine potenzielle Ehe mit sich selbst | |
verhandeln – und scheitert. Das alles auf weitgehend leerer Bühne, aber in | |
schön zeitgeschichtlich angepassten Kostümen von Clemens Leander. | |
## Schlachtbeschreibungen wie bei Heiner Müller | |
Doch dann bricht das Spektakel los. Zu den Kriegsszenen wird das | |
Bühnenskelett vom Anfang wieder flimmernd aufgefahren. Es gibt chorische | |
Passagen, Düsteres und Krachendes, aber auch satirische Leichtigkeit, etwa | |
bei einer Duellszene. Manche Schlachtbeschreibung fühlt sich an wie aus | |
einem Heiner-Müller-Stück. Besonders Nora Buzalka als einzige Hosenrolle | |
Pierre hält die philosophischen Fäden in der Hand und wird für die | |
Zuschauenden zu einem Anker für Nachdenklichkeit bis zu ihrem | |
herzzerreißenden Monolog über ein französisches Erschießungskommando. | |
Drum herum sterben, töten, lieben und betrügen die anderen formvollendet: | |
Auf den größten Schmerz kann der größte Witz folgen. Selbst Helmut Kohl hat | |
noch seinen fulminanten Auftritt zwischen Zar Alexander und Napoleon, wenn | |
der große Feldzug des kleinen Franzosen als Ursünde des modernen Europas | |
erklärt wird, obwohl mit Kants Idee vom ewigen Frieden schon damals | |
Alternativen formuliert waren. Der Schluss gehört dem Familienfrieden. In | |
einer Grillidylle performt das Ensemble HipHop mit Songs, die [4][Hendrik | |
Bolz, bekannt durch Zugezogen Maskulin,] und Johannes Aue beigesteuert | |
haben. | |
„Wir bringen hier etwas, was viel zu groß ist. Da kannst du nur verlieren“, | |
befindet Hübner lachend vor der Premiere. Er ist eben auch noch sein | |
schärfster Kritiker, doch trotz mancher Längen in den historischen | |
Familienpolitiken wächst der Abend gerade in seinen dunklen Momenten zu | |
echter Größe heran und kommt dabei der Gegenwart verdammt nahe. | |
2 Jun 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Charly-Huebner/!6036566 | |
[2] /Dokumentarfilm-ueber-Element-of-Crime/!6037084 | |
[3] /Opern-Urauffuehrung-in-Hannover/!6062039 | |
[4] /Rapper-ueber-Jugend-im-Osten/!5895031 | |
## AUTOREN | |
Torben Ibs | |
## TAGS | |
Theater | |
Charly Hübner | |
Tolstoi | |
Frieden und Krieg | |
Theater | |
Theater | |
Theatertreffen Berlin | |
Zeitgenössischer Tanz | |
Theater | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Theaterautor Roland Schimmelpfennig: Die Schönheit des Traurigen | |
Roland Schimmelpfennig gehört zu den meistgespielten Theaterautoren. | |
Zuletzt eröffneten die Nibelungenfestspiele mit einem Text von ihm. Ein | |
Porträt. | |
Theaterregisseur Jan Friedrich über AfD: „Was ist da passiert?“ | |
Mit „Onkel Werner“ ist Jan Friedrich bei den Autor:innentheatertagen | |
in Berlin dabei. Ein Gespräch mit dem jungen Theaterregisseur. | |
Berliner Theatertreffen: Frei gedacht, mehr gelacht | |
Das Schauspiel Magdeburg ist mit der Romanadaption „Blutbuch“ zum ersten | |
Mal in der Geschichte des Hauses zum Berliner Theatertreffen eingeladen. | |
16. Tanzplattform Freiburg: Zukunft ungewiss | |
In Performancestilen und Körpern zeigte sich die 16. Tanzplattform divers. | |
Künstlerisch harmonisch, hadert die Tanzszene mit finanziellen Problemen. | |
Magdeburger Schauspieldirektorin: Schwein in Sonderrolle | |
Roboter, Molche und Schweine: In den Inszenierungen von Clara Weyde wandeln | |
fantastische Figuren mitten unter Menschen. Ein Porträt. |