# taz.de -- Debütroman von Kim de l'Horizon: Queerung des Erzählens | |
> Kim de l'Horizon will in seinem radikalen Debüt „Blutbuch“ den | |
> Normfamilienroman hinter sich lassen. Dafür wurde l'Horizon mit dem | |
> Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. | |
Bild: Das eigene Leben aufschreiben: Kim de l'Horizon | |
Der Einsatz ist hoch in diesem streckenweise wie brennend geschriebenen | |
Roman. | |
Im vierten seiner fünf Teile gibt es in Schreibmaschinenschrift gesetzte | |
Abschnitte. Sie stammen, so sagt es die Romanerzählung, von der Mutter der | |
Erzählfigur (die sich nonbinär definiert und deshalb hier weder der | |
Erzähler noch die Erzählerin genannt werden soll). Und zwar hat die Mutter | |
ihren weiblichen Vorfahren, die bis dahin im Familienstammbaum eher | |
ausgelassen wurden, hinterherrecherchiert, zurück bis ins 14. Jahrhundert. | |
Als nun wiederum ihre Mutter dement wird und schubweise ihre Erinnerung | |
verliert, bittet sie die Erzählfigur, den Lebenslauf der Großmutter zu | |
schreiben. Das verweigert die Erzählfigur, stößt dann aber auf das Konvolut | |
mit den mütterlichen Recherchen. | |
Als Leser*in liest man mit. Eine der Urahninnen, Ira Marinero, geboren | |
1598, Todesjahr unklar, wird im Konvolut von einer Elvira gefragt, ob sie | |
schreiben könne. Ira bejaht. Elvira sagt: „Wenn ich schreiben könnte, würde | |
ich mein Leben aufschreiben.“ Worauf diese Ira, die als Heilerin in einem | |
Bordell arbeitet, sich denkt: „Ich kann zwar schreiben, aber habe kein | |
Leben, das ich aufschreiben möchte. […] Was ist das Schreiben an mich | |
verschwendet!“ | |
Sein Leben aufschreiben, überhaupt erst einmal ein Leben führen und sich | |
erstreiten, das man gerne beschreiben möchte – damit ist eins der Motive | |
benannt, die Kim de l’Horizons Debütroman „Blutbuch“ durchziehen. Das | |
zweite Hauptmotiv: „Blutbuch“ ist auch ein Familienroman, wenn auch einer, | |
der sowohl Normfamilien als auch das normierte Schreiben über sie hinter | |
sich lassen will. | |
Und es gibt ein drittes Motiv: Schreiben bedeutet bei alledem keineswegs | |
neutrales Beschreiben. Es wird hier inszeniert als ein Akt, eine Setzung, | |
auch eine Identitätsstiftung. Und so fluide diese erschriebene Identität | |
dann im Text behauptet wird – man kann in seinen besten Passagen auch | |
sehen, was an schwerem Gepäck von Schuldgefühlen und Unsicherheiten, | |
übernommenen Prägungen und Ängsten dabei immer mitschwingt. | |
## Wellen und Wogen | |
An einer Stelle heißt es, dass „das Schreiben eine einzige Wellenlinie ist, | |
eine von weither kommende Woge, die lange vor mir begonnen hat und noch | |
lange nach mir weiterfliessen wird“. Nicht nur wegen der Bildlichkeit von | |
Wellen und Wogen ist dieser Satz interessant, sondern auch, weil deutlich | |
wird, dass das Erschreiben eines eigenen Lebens hier immer auch als ein | |
Einschreiben in Traditionen gedacht ist. Und was die Rechtschreibung | |
betrifft: Wir sind in der Schweiz, das Schweizer Doppel-s wird im Text | |
beibehalten. | |
Es ist vielleicht ganz gut, eine Besprechung dieses Romans mit diesem | |
seinem ernsten Schreibeinsatz zu eröffnen. Man könnte auch ganz anders | |
beginnen. Man könnte sich zu diesem Roman über „brennend“ hinaus viele | |
weitere Adjektive überlegen. Streckenweise ist er wirklich ein wilder | |
Bewusstseinsritt, dann wieder ein sanftes Erinnern an die Kindheit, es gibt | |
hochreflektierte Abschnitte, aber auch rauschhafte Erzählmomente. | |
Man könnte es auch ein bisschen lustig finden, dass nun, da das Buch auf | |
der Shortlist zum Deutschen Buchpreis steht und es damit offiziell nicht | |
mehr (nur) unter „queer“, sondern auch unter „Literatur“ läuft, bundes… | |
die Hochliteraturspezialisten und Buchhändler über die expliziten | |
Analsexszenen sich beugen werden, die der Roman Sex-positivity-mäßig | |
enthält. | |
## Ins Förmchen goethen | |
Oder man kann dem hinterhersinnen, wie das Buch den Familienroman | |
dekonstruiert, aber auch wiederherstellt. „Wie sehen Texte aus, wenn nicht | |
ein menschliches Mustersubjekt im Zentrum steht und die Welt begnadet ins | |
Förmchen goethet?“, fragt sich die Erzählfigur. Ins Förmchen goethen, | |
schöne Wendung übrigens, das will der Text selbstverständlich nicht, also | |
bricht er die Erzählformen auf. | |
„Dass es zu simpel ist, die zerstückelte Welt in zerstückelten Texten | |
darzustellen“, weiß die Erzählfigur aber auch. Und so springt der Roman hin | |
und her, springt auch immer wieder auf die Metaebene (inklusive Eribon-, | |
Ernaux-, Derrida-Einschüben), springt zwischendurch in die Schreibsituation | |
und fängt wie in einem Mosaik dann eben doch das Leben der Erzählfigur, | |
ihrer Mutter und Großmutter ein. | |
In seinem Bekenntnisdrang nervt der Roman streckenweise auch. Was an ihm | |
offenes Herz ist und was aufgeschminkte divenhafte Maske, ist nicht immer | |
zu entscheiden. Doch der Roman kriegt einen immer wieder. Es gibt schöne | |
Sätze, etwa wenn die Erzählfigur mit der Großmutter allein ist und | |
schreibt: „meine Hände sind barfuss in deinen Händen“, und auch effektiv | |
eingesetzte literarische Momente, etwa wenn erst seitenlang aufregender Sex | |
mit einem Farid beschworen wird und dieser Farid dann knapp sagt: „Aber ich | |
heisse doch Thilo.“ Eine schöne Illustrierung eines Satzes, der an anderer | |
Stelle fällt: „Mein Begehren geht mich spazieren.“ | |
## Patriarchale Geschlechterbilder | |
Der zugleich anstrengendste wie beeindruckendste Abschnitt ist der dritte | |
Teil. In einem teilweise atemlosen und mit aktuell angesagtem Jargon | |
durchsetzten Erzählstrom dreht er sich um die Blutbuche, die der | |
Urgroßvater Anfang des 20. Jahrhunderts für seine Tochter pflanzte und wie | |
dabei nationalistische Vorstellungen, Familiengeheimnisse und patriarchale | |
Geschlechterbilder eine Rolle spielen. | |
Sein Leben beschreiben, sich dabei teils von der Herkunft abgrenzen, teils | |
in sie einordnen, das ist zurzeit ein großes Thema in der Literatur. | |
[1][Andreas Schäfer,] [2][Martin Kordić,] [3][Daniela Dröscher,] [4][Jan | |
Faktor] tun das aktuell auch, jeweils auf ihre Weise, die Liste ließe sich | |
verlängern. Kim de l’Horizons „Blutbuch“ ist in dieser Reihe literarisch | |
der sicherlich radikalste Roman, doch existenzielle Dringlichkeit behaupten | |
auch die anderen Autor*innen. | |
Was passiert hier? Was man womöglich sehen muss, ist, dass sich sein Leben | |
zu erzählen ein Bewältigungsmechanismus ist, ein Akt der Orientierung und | |
Selbstvergewisserung, und dass das Bedürfnis danach offensichtlich groß | |
ist, und zwar durch die Bank, von den sogenannten Subkulturen bis hin zum | |
Mainstream. | |
## Brief an die Großmutter | |
Es ist aber auch interessant, das „Blutbuch“ in literarische | |
Traditionslinien einzuordnen. Thomas Manns „Tonio Kröger“ – „Warum bin… | |
doch so sonderlich und im Widerstreit mit allem, zerfallen mit den Lehrern | |
und fremd unter den anderen Jungen“ – kann einem einfallen. Künstler zu | |
werden ist im „Tonio Kröger“ die einzige anerkannte Möglichkeit, eine | |
„andere“ Identität zu leben. | |
Fritz Zorns Abrechnung mit seinen bürgerlichen Eltern, „Mars“ – „Ich b… | |
jung und reich und gebildet, und ich bin unglücklich, neurotisch und | |
allein“ –, blinkt auch in den Referenzen. Selbstverwirklichung ist in | |
diesem Siebziger-Jahre-Klassiker nur als Selbstzerstörung denkbar. | |
Wenigstens angedeutet wird das „Blutbuch“ dagegen spätestens im fünften | |
Abschnitt auch ein Roman über Freundschaften. Und insgesamt ist es auch ein | |
langer Brief an die Großmutter. Befreiung ist ein so großes Wort. Aber dass | |
unsere Gesellschaft dabei ist, wenigstens die strikte Aufteilung von | |
„normal“ und „anders“ wegzuarbeiten, das kann man von Mann zu l’Horiz… | |
vielleicht sehen, mit dem Effekt, dass dann eben alle über ihre Identität | |
nachdenken müssen. | |
Allerdings vielleicht dann doch nicht so tiefgreifend wie Kim de l’Horizon. | |
2 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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