| # taz.de -- Interview mit Daniela Dröscher: Der Kern des Patriarchats | |
| > Die Autorin Daniela Dröscher über ihren neuen Roman „Lügen über meine | |
| > Mutter“ und das Mehrgewicht der eigenen Familie. | |
| Bild: „Wenn Care-Arbeit nicht läuft, dann läuft gar nichts“ – Autorin D… | |
| taz am wochenende: Frau Dröscher, Sie haben schon häufiger über Ihre Mutter | |
| beziehungsweise eine dicke Mutter geschrieben. Etwa in [1][„Zeige deine | |
| Klasse“] oder in Ihrer abgründigen Erzählung „Ophelia, mach hinne“. | |
| Daniela Dröscher: Es ist eines meiner Lebensthemen. | |
| Trotzdem, so heißt es, haben Sie gezögert, diesen Roman nun zu schreiben. | |
| Marguerite Duras hat rund 20 Bücher und 40 Jahre gebraucht, um irgendwann | |
| „Der Liebhaber“ schreiben zu können. Um das unverstellt aus der Sicht des | |
| Kindes zu schreiben, musste ich einfach älter, musste ich 45 Jahre alt | |
| werden. Ich hatte vorher nicht den notwendigen Abstand und anfangs auch | |
| keine Sprache dafür, es gab den heutigen Bodypositivity-Diskurs ja auch | |
| noch nicht. Zudem fragte ich mich, ob ich als normalgewichtig geltende | |
| Autorin diese Geschichte überhaupt schreiben darf. | |
| Sie erzählen aus der Perspektive eines zu Beginn 6 Jahre alten Kindes. | |
| Warum? | |
| Mir war es wichtig, immer „ich“ zu sagen und immer aus der Perspektive des | |
| Kindes zu sprechen, weil ich mir nicht anmaße, zu wissen, wie es sich | |
| anfühlt, einen dicken Körper zu haben. | |
| Der Roman beschränkt sich auf die Jahre 1983 bis 1986. | |
| Ich hätte das Ganze auch episch schreiben können, aber die Theaterautorin | |
| in mir wollte die Verdichtung, die szenische Verknappung. Warum es gerade | |
| diese Jahre sind, liegt in meiner Biografie begründet. Ich wurde 1977 | |
| geboren und finde diese Zeit auch vor ihrem gesellschaftlichen Horizont | |
| sehr interessant. Diese sogenannte BRD-Noir-Zeit, mitten in der Kohl-Ära, | |
| noch weit vor 1989 und der Wiedervereinigung. Ich fand spannend, noch mal | |
| zu schauen, was da eigentlich los war. | |
| Das Patriarchat stand damals noch in voller Blüte, Männer hatten Priorität, | |
| und von heute aus betrachtet fragt man sich, warum da viele mitgemacht | |
| haben? | |
| Eine gute Frage. Die Mutter im Buch ist nicht politisch organisiert, sie | |
| kommt gar nicht auf die Idee, sich mit anderen zu verbünden. Diese | |
| unhinterfragte Rollengläubigkeit ist eindrücklich. Die Autorin Heike | |
| Geißler, die ostsozialisiert ist, hat den Text gelesen und gemeint: „Bin | |
| ich in den 1960ern? Was war los bei euch?“ | |
| In dem Familienhaushalt im Buch funktioniert gar nichts, wenn die Mutter | |
| nicht da ist. Da scheint sich einiges geändert zu haben. Andererseits hängt | |
| Care-Arbeit auch heute noch weitgehend an den Frauen. | |
| Stimmt, und [2][diese unbezahlte Arbeit] ist das Fundament von allem. Wenn | |
| das nicht läuft, dann läuft gar nichts. Ich bin gerade in Italien und meine | |
| Gastgeber haben eine 7 Monate alte Tochter und ich denke: Was für eine | |
| Arbeit ist es, ein Kind aufzuziehen. Es ist so eine Arbeit! Es gibt viele | |
| Ideen und Lösungen, aber das muss man wollen. | |
| Care-Arbeit zu bezahlen, scheint nicht der Weisheit letzter Schluss. | |
| Wir müssen die Arbeit umverteilen, die Erwerbsarbeit darf nicht das Goldene | |
| Kalb bleiben. Doch das rüttelt am Leistungsprinzip, weil Menschen, die | |
| Kinder aufziehen, nicht so leistungsfähig sind, beziehungsweise ihre | |
| Leistung woanders vollbringen. Das berührt den [3][Kern des Patriarchats | |
| und des Kapitalismus]. | |
| Die Geschichte, die Sie erzählen, ist eine Nora-Geschichte, also im Sinne | |
| von Henrik Ibsens Stück „Nora oder ein Puppenheim“ aus dem Jahr 1879. Ein | |
| Stück, das heute gern für obsolet erklärt wird. | |
| Das ist tatsächlich eine Nora-Geschichte. So oft ist mir diese westdeutsche | |
| Nora noch nicht begegnet und ich dachte, vielleicht ist das etwas, was | |
| erzählt werden muss. | |
| Es ist eine Emanzipationsgeschichte. | |
| Absolut. Am Ende steht eine Befreiung, die für diese Figur möglich ist. | |
| Aber ich finde, es sollte mehr Geschichten geben von selbstbewussten, | |
| dicken, fröhlichen Frauen, die einmal quer durchs Patriarchat marschieren | |
| und ihr Ding machen. So ist meine Figur jedoch nicht. Sie versucht, es sehr | |
| vielen recht zu machen, und ist eine Gefangene ihres Rollenbilds und des | |
| Rollenbilds ihrer Zeit. | |
| In ihrem Dicksein ist sie nach heutiger Lesart emanzipierter als andere, | |
| weil sie mehr Raum beansprucht. | |
| Die Mutter selbst hat auch gar kein Problem mit ihrem Körper, aber sie | |
| lässt zu, dass ihr Gewicht immer wieder zum Problem gemacht wird. Sie lässt | |
| sich auf die Waage zwingen, in Kur schicken, unterzieht sich diesen Diäten. | |
| Sie verweigert sich erst am Ende. Sie ist eine schöne, selbstbewusste, | |
| eigenwillige Person, die zulässt, dass ihr Körper zum Gefängnis wird. | |
| Das Dicksein lässt sich auch als Chiffre für Nichtzugehörigkeit lesen. | |
| Ja, ich hoffe, dass das Buch beide Lesarten mitbringt. Einerseits ist es | |
| sehr konkret und ich denke, Dickenfeindlichkeit ist eines der letzten Tabus | |
| im Vergleich zu anderen Diskriminierungen. Andererseits gibt es | |
| Ähnlichkeiten zu anderen Formen der Diskriminierung. | |
| Die Künstlerin Katharina Bill, die zu Performativität von Körperfett und | |
| normativen Darstellungskonventionen forscht, sagt, dass hinter | |
| Dickenfeindlichkeit oft Frauenhass stecke. | |
| Da würde ich absolut zustimmen. Ich habe mich schon als Jugendliche in | |
| Bezug auf meine Mutter gefragt: Was ist eigentlich die Provokation dieses | |
| Körpers. Ein weiblicher Körper, der sich Raum nimmt, ist nicht vorgesehen. | |
| Ob Mann oder Frau, der Vorwurf lautet, man habe sich nicht im Griff, | |
| verhalte sich gesundheitsschädigend. | |
| Eine Kollegin, die mehrgewichtig ist, sagt, wenn sie zum Arzt gehe, könne | |
| sie etwas an den Augen haben, und er behauptet, es liege daran, dass sie zu | |
| dick sei. Menschen werden auf dieses eine Merkmal reduziert; dann wird | |
| gesagt, sie seien faul, undiszipliniert, egoistisch, und die Stereotype | |
| rattern los. | |
| Im Roman erwischt die Tochter die Mutter eines Nachts im Keller beim | |
| Naschen. Ist das mit der Selbstdisziplin wirklich ein Vorurteil? | |
| Ich glaube, das muss jeder beim Lesen für sich selbst beantworten. Ich habe | |
| es so gebaut, dass sich die Lesart aufdrängt, jemand, der so viel arbeitet | |
| wie diese Mutter, braucht vielleicht eine Art Ent- und Belohnung. Der | |
| Körper reichert auch Fett an, um Stress zu verarbeiten. | |
| Sie haben vorhin das Wort „mehrgewichtig“ verwendet, im Buch ist die Rede | |
| von „dick“. [4][Hadija Haruna-Oelker schreibt in ihrem Buch] „Die Schönh… | |
| der Differenz“, das Wort „übergewichtig“ sei abwertend. | |
| Ich stimme zu, in dem „über“ ist schon ein „zu“ enthalten. Wer darf das | |
| über wen sagen? Ich finde, „mehrgewichtig“ ist ein schönes Wort, vielleic… | |
| wird es geläufiger, wenn wir es häufiger verwenden. Im Roman sage ich | |
| „dick“, weil es für die Zeit und diese Figur passender ist. | |
| Im Roman heißt es, Schreiben und Schreien seien nur ein winziges „b“ | |
| voneinander entfernt. Ist Ihr Roman auch ein Schrei? | |
| Ich glaube, es ist ein sehr geformter und kontrollierter Schrei. | |
| In „Zeige deine Klasse“ sagen Sie, Schreiben bedeute auch, die | |
| Wirklichkeit zu verändern. | |
| Ich schreibe nur über Dinge, die ich nicht verstehe und die ich für mich | |
| klären muss. Aber ich glaube, ich habe meinen Frieden gemacht. | |
| [5][Mittlerweile hat sich viel getan. „Bodyshaming“] und „Bodypositivity�… | |
| scheinen keine Fremdwörter mehr zu sein. Sind wir auf einem guten Weg? | |
| Ich hoffe es, aber es hat wirklich mit Sichtbarkeit zu tun. Wir brauchen | |
| mehr solche tollen Schauspielerinnen wie beispielsweise Crissy Metz. | |
| Künstlerinnen, die einen ganz eigenen Körper mitbringen und damit | |
| selbstbewusst performen. | |
| Wie Stefanie Reinsperger vom Berliner Ensemble. | |
| Richtig! Wir brauchen solche Frauen, und zwar in allen Berufen. | |
| Ich habe Ihren Roman als eine große Liebeserklärung an die eigene Mutter | |
| gelesen. | |
| Wenn sich das transportiert, habe ich meinen Job gut gemacht! | |
| 20 Aug 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Buch-Zeige-deine-Klasse/!5537455 | |
| [2] /Digitalkonferenz-zu-Carearbeit/!5777040 | |
| [3] /Buch-Zeige-deine-Klasse/!5537455 | |
| [4] /Streit-um-Rassismus-Vortrag/!5758214 | |
| [5] /Lizzo-hat-eine-neue-Castingshow/!5850430 | |
| ## AUTOREN | |
| Shirin Sojitrawalla | |
| ## TAGS | |
| Familienroman | |
| Frauenkörper | |
| Frauenrolle | |
| Frauenbild | |
| Frauen | |
| Mutterfigur | |
| Mutter-Tochter-Beziehung | |
| Body Positivity | |
| Diskriminierung | |
| Care-Arbeit | |
| IG | |
| Theater | |
| Literatur | |
| Kolumne In Rente | |
| Literatur | |
| Literatur | |
| Didier Eribon | |
| Literatur | |
| Didier Eribon | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Die Mutterrolle im Theater: Die Angst, nie zu genügen | |
| Für das Nationaltheater Mannheim hat Laura Linnenbaum den großartigen Roman | |
| von Daniela Dröscher „Lügen über meine Mutter“ auf die Bühne gebracht. | |
| Romane über die eigenen Eltern: Der Mutter eine Stimme geben | |
| Romane über die eigene Mutter boomen derzeit. Doch was gibt man von ihr | |
| preis, und wie schützt man sie? Diese Fragen treiben viele Autoren um. | |
| Sexy über 60: Iggy Pops nackte Brust und ich | |
| Jenseits der sechzig ist der Körper angenehm nichtbinär. Vorbei die | |
| heteronormative Zwangssexyness. Wir sind subversiv, ohne etwas dafür zu | |
| tun. | |
| Debütroman von Kim de l'Horizon: Queerung des Erzählens | |
| Kim de l'Horizon will in seinem radikalen Debüt „Blutbuch“ den | |
| Normfamilienroman hinter sich lassen. Dafür wurde l'Horizon mit dem | |
| Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. | |
| Drastischer Roman über Mutterschaft: Die Seele aus dem Leib geschrieben | |
| Noch ein Roman über Kinderkriegen, Care-Arbeit, Mutterschaft? Ja, | |
| unbedingt, wenn er denn so schlau und heftig ist wie Julia Frieses Debüt | |
| „MTTR“. | |
| Französische Literatur: Die Kronzeugin | |
| Mit „Die Scham“ ist ein neuer Band von Annie Ernaux’ | |
| autobiografisch-soziologischer Prosa erschienen. Warum können sich gerade | |
| alle auf sie einigen? | |
| Sally Rooneys Roman „Normale Menschen“: Lass uns über Klasse reden, love | |
| Der für den Man-Booker-Preis nominierte Roman ist voll von Millennials, die | |
| politisch denken, aber nicht handeln. Warum eigentlich nicht? | |
| Buch „Zeige deine Klasse“: Scham nach oben | |
| Daniela Dröscher beschreibt in ihrem autobiografischen Essay „Zeige deine | |
| Klasse“ ihren Bildungsaufstieg. Inspiriert wurde sie von Didier Eribon. |