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# taz.de -- Buch „Zeige deine Klasse“: Scham nach oben
> Daniela Dröscher beschreibt in ihrem autobiografischen Essay „Zeige deine
> Klasse“ ihren Bildungsaufstieg. Inspiriert wurde sie von Didier Eribon.
Bild: Bevor der Hut fliegt, bedarf es vieler unangenehmer Momente
Schon bei der Immatrikulation war da diese merkwürdige Unruhe, die sich
später in den Seminaren zu echter Nervosität steigerte. Zu Wortmeldungen
musste er sich zwingen und versuchen, sich seinen merklich erhöhten Puls
nicht anmerken zu lassen. Überhaupt trug er nur etwas zur Diskussion bei,
wenn er sich ganz sicher sein und zwei, drei in Gedanken zurechtgelegte
Sätze abspulen konnte. Kamen Verständnisfragen, warf er das Handtuch oder
brach sich schlicht einen ab.
Noch schlimmer wurde es bei einem Witz, Kommentar oder einem mitleidigen,
süffisanten, vielleicht auch einfach nur freundlich zugewandten, von ihm
falsch gedeuteten Lächeln des Dozenten, eine Dozentin hatte er nicht. Die
Erinnerungen an solche Demütigungen zeitigen noch heute somatische
Reaktionen bei ihm. Eine allmähliche Verfertigung des Gedankens beim
Sprechen, die er bei anderen beobachtete und beneidete, gelang ihm selten,
obwohl er in anderen Kontexten durchaus eine gewisse Eloquenz an den Tag
legte.
Ausnahmesituationen wie Referate waren eine nervenaufreibende Tortur, nicht
nur, weil er so gut wie keine Übung darin hatte, sondern weil er das tief
sitzende Gefühl der Fremdheit nicht loswurde, die sich zur Gewissheit
verfestigende Vermutung, nicht hierher zu gehören.
Mit den Jahren verlor sich die Gewissheit ein wenig, die Vermutung blieb.
Als er seine Dissertation abgab, befürchtete er, spätestens jetzt werde man
ihn überführen. Noch Jahre nach dem Studium suchten ihn gelegentlich
Angstträume heim – er allein auf einer Bühne, voller Panik, weil er nicht
liefern konnte, was das Publikum von ihm erwartete.
Dieser Er bin selbstredend ich. Etwas Ähnliches hat aber auch Daniela
Dröscher erlebt – und in ihrem autobiografischen Essay „Zeige deine Klasse…
beschreibt sie nicht nur die emotionalen Begleiterscheinungen und
Reibungsverluste ihres bildungsbedingten Milieuwechsels, sie versteht sie
als durchaus verallgemeinerbare Phänomene.
Dabei gehört sie eigentlich schon zur zweiten Generation und wächst in
relativem Wohlstand auf. Den Sprung aus der bäuerlich-proletarischen Klasse
ins Bürgertum hatten schon ihre Eltern vollzogen, allerdings fehlte ihnen
noch die Selbstverständlichkeit im Umgang mit den bildungsbürgerlichen
Insignien – Zeit-, Spiegel- und Theater-Abo, Klassikerbibliothek et cetera.
## Mischung aus Narration und Analyse
Daniela Dröscher ist die Erste in ihrer Familie mit akademischer
Ausbildung. Aber nicht erst an der Universität erfährt sie, was sie die
„Scham nach oben“ nennt. Bereits ihre Schulzeit ist geprägt von kulturellen
Minderwertigkeitskomplexen, ihren „drei Ds – dicke Mutter, Dorf, Dialekt“.
Skrupulös und mit selbstentlarvender Offenheit illustriert und analysiert
Dröscher ihr „Schneewittchen-Syndrom“, dieses Unbehagen, zwei Welten
anzugehören und sich in beiden nicht recht heimisch zu fühlen – und gibt
auch gern zu, dass sie ohne [1][Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“]
vermutlich nicht angefangen hätte, darüber zu schreiben.
Das schmälert ihre Leistung überhaupt nicht. Man liest dem Buch an vielen
Stellen an, was es die Beteiligten gekostet haben muss – und man weiß im
Laufe der Lektüre die Erlaubnis ihrer Eltern, ihre Geschichte erzählen zu
dürfen, mehr und mehr zu würdigen. Zugleich gehört es zur literarischen
Qualität dieses Essays, dass man sich nicht mehr als nötig zum Voyeur
gemacht fühlt und auch selten von den hier offenbarten familiären
Innenansichten peinlich berührt wird. Man spürt jederzeit die Notwendigkeit
der privaten, ja oft intimen Anekdote als Grundlage für die kleinen und
großen soziologischen Wahrheiten.
„Mein milieuspezifischer Habitus brach sich in Form von Überforderung,
Perfektion und Ungeduld ungehemmt Bahn. Ein Aufsteigerkind ist anders
ungeduldig als der Adelsspross, es ist anders perfektionistisch als das
Bürgerkind und anders überambitioniert als ein Arbeiter“, beschreibt sie
die Überkompensation ihres Bildungsdefizits. „Immer war da das Gefühl des
Zu-SPÄT. Schon immer war es zu spät gewesen. Ich hätte schon immer so viel
mehr lernen müssen, als ich jetzt noch lernen konnte.“ Die Mischung aus
Narration und Analyse, die unsystematische Methode, die hart an der eigenen
Vita entlang erzählt und sich punktuell zu solchen kleinen, aperçuhaften
Erkenntnissen verdichtet, macht die Suggestivität dieses Essays aus.
## „Hug the rich“
Seine bisweilen fast schon collagenhafte Heterogenität wird noch
unterstrichen durch die formale Unruhe. Sie streut immer wieder
aphoristische Zitate von Eribon, Bourdieu, Flaubert, Eva Illouz und anderen
ein, setzt außerdem viele Fußnoten und integriert Listen. Nicht immer sind
die wirklich funktional. Gerade in den Fußnoten stehen bisweilen
Schlussfolgerungen, die in den Haupttext gehört hätten, und nicht selten
auch bloße Rüschenstickereien, die allenfalls die Funktion haben,
Belesenheit oder intellektuelle Satisfaktionsfähigkeit auszustellen. Fast
wirken sie wie ein weiteres Symptom ihres Komplexes, wie ein streberhafter
Versuch, dem bildungsbürgerlichen Über-Ich zu gefallen.
Am Ende ihres Essays spekuliert Dröscher noch etwas ins Blaue über die
Skills, die sich Bildungsaufsteiger mühsam erarbeitet haben und die nun
bitte schön auch gesellschaftlich nutzbringend sein sollen. Ihrer Meinung
nach gehört dazu eine besondere „soziale Beweglichkeit“, die Fähigkeit
also, „Menschen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft
freimütig und respektvoll“ begegnen zu können. Sie leitet daraus eine
Vermittlerrolle ab, die gerade die solchermaßen Sozialisierten bei der
Befriedung der Klassengegensätze spielen könnten. Dahinter steckt ihr Traum
einer klassenlosen Gesellschaft. „Der Klassenkampf könnte mit einer
Umarmung beginnen“, postuliert sie. „Nicht mit der Forderung nach
Enteignung. Nicht eat the rich – hug the rich.“ Aber Träumen ist ja
bekanntlich erlaubt.
24 Sep 2018
## LINKS
[1] /Debatte-Rueckkehr-nach-Reims/!5382418
## AUTOREN
Frank Schäfer
## TAGS
Didier Eribon
soziale Klassen
Familienroman
Aufstieg
Dialekt
USA
Didier Eribon
Lesestück Interview
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