# taz.de -- Daniel Cohn-Bendit über Frankreich-Wahl: „Sie werden sich bewege… | |
> Der deutsch-französische Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit über alte | |
> Linke, neue Rechte, Didier Eribon und Emmanuel Macron. | |
Bild: Daniel Cohn-Bendit im April bei einer Wahlkampfveranstaltung Emmanuel Mac… | |
taz: Herr Cohn-Bendit, wie konnte der linksliberale Emmanuel Macron ohne | |
traditionelle Partei im Rücken die erste Runde der französischen | |
Präsidentschaftswahlen für sich entscheiden? | |
Daniel Cohn-Bendit: Er hat sehr früh gespürt, dass die traditionellen | |
Parteien, vor allen die Sozialistische Partei, außer Atem sind. Sie | |
erreicht die Gesellschaft nicht mehr, ist total zerstritten. Er hat im | |
richtigen Moment seine Bewegung En Marche! ins Leben gerufen. Ist als | |
Wirtschaftsminister Hollandes zurückgetreten und hat mit ungeheuerlicher | |
Chuzpe die politische Landschaft Frankreichs durcheinandergewirbelt. | |
Macron gilt als weltoffen und proeuropäisch. Seine Konkurrentin in der | |
Stichwahl, Marine Le Pen, vom Front National (FN) verkörpert das Gegenteil. | |
Wie sind Macrons Chancen beim zweiten Wahlgang am 7. Mai? | |
Ich bin überzeugt, dass er mit um die 60 Prozent der Stimmen gewinnen kann. | |
Den regressiven, fremdenfeindlichen Pro-Putin-Kurs Le Pens lehnt die | |
Mehrheit der Franzosen ab. Das heißt aber nicht, dass diejenigen, die dann | |
Macron wählen, vollkommen mit ihm übereinstimmen. | |
Nicht nur die französische Rechte ist EU-feindlich. Auch die orthodoxe | |
Linke ist es. Wie werden sich jene 20 Prozent verhalten, die den | |
Sozialisten Jean-Luc Mélenchon gewählt haben? | |
Das ist der eigentliche Skandal. Die unterlegenen Kandidaten der | |
Sozialisten und der bürgerlichen Rechten haben sich ohne Wenn und Aber für | |
Macron in der Stichwahl ausgesprochen. Die Ideale von Demokratie und | |
Republik sind unvereinbar mit dem FN. Doch Jean-Luc Mélenchon und seine | |
Sprecher weigern sich, Position zu beziehen. In unterschiedlichen sozialen | |
Medien werden sie nun mit einer Erklärung konfrontiert, in der Mélanchon | |
2002 dazu aufgerufen hatte, Marine Le Pens Vater als Präsident zu | |
verhindern. Damals meinte er, ein Linker darf sich nicht der Stimme | |
enthalten, wenn es um Demokratie und Republik gehe. | |
Auch Linksintellektuelle wie Didier Eribon sagen, sie würden lieber nicht | |
wählen, als Macron ihre Stimme zu geben. | |
In Frankreich kursiert eine Neuauflage der These vom Sozialfaschismus aus | |
den 30er Jahren: Der Liberalismus sei der Steigbügelhalter des Kapitalismus | |
und des Faschismus. Das war 1930 unsinnig und ist es heute. Intellektueller | |
Hochmut macht manchmal blind. Wir hören hier nicht Eribons „Rückkehr nach | |
Reims“, sondern eine Rückkehr ins Berlin der 1930er Jahre. Mich entsetzt, | |
wie Linke, die ich gut kenne, leichtfertig Macron denunzieren. Als Banker, | |
als Büttel des Finanzkapitals, oft mit einem gewissen Unterton, Macron hat | |
schließlich drei Jahre bei der Rothschild-Bank gearbeitet. Was hat denn | |
Jean-Luc Mélenchon getan? Er hat sein ganzes Leben in den Parteistrukturen | |
der Sozialistischen Partei überlebt. Fast dreißig Jahre lang war er im | |
französischen Senat, einer der unwichtigsten parlamentarischen | |
Institutionen, aber sehr gut bezahlt. Acht Jahre genoss er die Tantiemen | |
eines Europa-Abgeordneten, obwohl ihn Europa nicht interessiert und er sich | |
so gut wie nie an Ausschuss- oder Gruppenarbeit beteiligt hat. | |
Der offizielle Kandidat der sozialistischen Partei, Benoît Hamon, die | |
Grünen sowie der ebenfalls unterlegene Konservative Franç ois Fillon rufen | |
dazu auf, jetzt Macron zu unterstützen. Wird das reichen, um Le Pen zu | |
schlagen? | |
Ja. Ja. Ja. Man sollte aufhören, sich von Horrorvisionen faszinieren zu | |
lassen. Um ein Bild von der Tour de France zu nehmen: Macron hat die | |
Pyrenäen-Etappe am Gipfel des Tourmalet mit zwei Minuten Vorsprung | |
gewonnen. Die nächste in den Mittelgebirgen wird nicht mehr so schwer sein. | |
Dann kommen allerdings die Parlamentswahlen. Sie werden die Reifeprüfung | |
des jungen Präsidenten Macron sein. | |
Wie will Macron ohne starke eigene Partei regieren? | |
Er betreibt mit seiner Bewegung bereits den Parteiaufbau. En Marche! wird | |
bei den kommenden Parlamentswahlen Kandidaten in allen Wahlkreisen haben. | |
Im Gegensatz zu ihm glaube ich aber nicht, dass er die absolute Mehrheit | |
erringen wird. | |
Und das bedeutet? | |
Frankreich kommt in eine neue Ära der Politik. Die Franzosen werden sich | |
daran gewöhnen müssen, Koalitionen zu bilden. Sie werden lernen müssen, | |
dass ein Kompromiss nicht gleichbedeutend mit Selbstaufgabe ist. Das würde | |
einer Art Kulturrevolution gleichkommen. | |
Und die alten Parteien? | |
Sie werden sich bewegen müssen. Es kann auch gut sein, dass in den nächsten | |
Jahren ein neues Wahlrecht eingeführt wird. Modell Bundesrepublik, mit | |
Fünfprozentklausel, weg vom absoluten Mehrheitswahlrecht. Dies würde eine | |
Reparlamentisierung der politischen Auseinandersetzung mit sich bringen. | |
Nach Umfragen sehen über drei Viertel der Franzosen ihr Land in der Krise. | |
Woher rührt das? Sehen Sie reale Gründe? | |
Klar, die hohe Arbeitslosigkeit, sie liegt bei etwa 10 Prozent. Das | |
Ausbildungssystem funktioniert schlecht. Es ist nicht auf der Höhe der | |
Zeit. Es gibt auch kein duales System wie in Deutschland. Frankreich ist | |
auch eine Stimmungsgeschichte. Viele haben Angst vor der Zukunft. Macron | |
versucht eine positive Perspektive zu öffnen. Le Pen argumentiert mit | |
Ängsten. Das ist nun auch eine Abstimmung über Offenheit oder Regression, | |
Solidarität oder Ausgrenzung. Ja, Macron ist liberal in seinen | |
Vorstellungen, aber auch sozialdemokratisch, wenn es um den Schutz der | |
Schwächsten geht. | |
25 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
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