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# taz.de -- Essay Grüne und Europa: Rede an die Zauderer
> Bonjour Freunde, die Politik ist zurück! Ein Aufruf an die Grünen, sich
> hinter das Projekt Europa zu klemmen und mit ihren Kernzielen zu
> vereinbaren.
Bild: Viele Menschen kamen im April zur Kundgebung „Pulse of Europe“ auf de…
Die Grünen sind Teil eines deutschen Politikbetriebs, der ganz kleine Karos
liebt. Provinziell ist das Denken in Koalitionsoptionen – reicht es zu R2G,
geht noch Schwarz-Grün, was ist mit Jamaika? Ebenso beschränkt sind
Wahlprogramme, die Wählern vorgaukeln, allfällige Herausforderungen seien
noch im nationalstaatlichen Rahmen zu bewältigen.
So wie der Bundestagswahlkampf sich anlässt – „mehr Sicherheit“ bei der
zusammengerauften Union, „mehr Gerechtigkeit“ bei Schulz-ernüchterten
Sozialdemokraten, „noch mehr Gerechtigkeit“ bei den janusköpfigen Linken �…
bleibt er auf dem Niveau eines Landtagswahlkampfes.
Bitte über den Tellerrand zu schauen. Ausgerechnet in Frankreich, das seit
den 1990er Jahren zunehmend auf EU-Distanz gegangen ist und zuletzt im
Dauerfeuer Marine Le Pens und Jean-Luc Mélenchons lag, ist jener Bewerber
mit Aplomb in den Élysée eingezogen, der im Unterschied zu allen anderen
unzweideutig für Europa und die EU gestritten hat.
Entscheidend war am Ende nicht die Frage von Arm und Reich oder oben und
unten, sondern ob die französische Gesellschaft offen bleiben oder sich
schließen soll. Emmanuel Macron lässt es nicht an Avancen an Berlin und
Brüssel fehlen, die EU von Grund auf zu stabilisieren und neu zu gründen.
## Gesichter wie drei Tage Regenwetter
Bonjour, die Politik ist zurück. Zuvor haben in den Niederlanden mit Jesse
Klaver und seiner Crew ebenso europageneigte Grüne Stimmen gegen Wilders
wie gegen die protektionistische Rechte und Linke gewonnen. Und in
Österreich hat letztes Jahr, wenn auch knapp, mit Alexander van der Bellen
ein grüner Kandidat den blau-braunen Norbert Hofer geschlagen.
Was geht also mit den Grünen, die im Titanenkampf Schulz versus Merkel
gerade demoskopisch in die Knie gehen und Fernsehgesichter machen wie drei
Tage Regenwetter, weil der „heiße Scheiß“ (Göring-Eckardt) anderswo läu…
Haben sie begriffen, was die angebliche „Führerin der westlichen Welt“ und
der durch die Provinz tingelnde „Mister Europa“ zu verpassen scheinen: Dass
im Pariser Mai 2017 nicht nur eine nationale Präsidentschaftswahl, sondern
ein europäisches Ereignis stattfand, das der EU neuen Schwung geben kann?
Dass die Ära europäischer Innenpolitik auch die falsche Austeritäts- und
Finanzpolitik der Bundesrepublik Deutschland betrifft – und sich ändern
muss?
## Warum nimmt man den Grünen ihre Vorschläge nicht ab?
Es besteht gerade die Chance, dass sich die Europäische Union zum Antipoden
von Putin, Trump (und den Chinesen) aufschwingt, ohne dass man über eine
derartige Pose gleich weltweit in Gelächter ausbricht. Folglich geht es am
24. September nicht allein darum, wie hoch der deutsche Mindestlohn, wie
niedrig die deutsche Flüchtlingsobergrenze oder wie sicher die deutschen
Renten sind. Sondern auch, ob Berlin und Paris samt einer Koalition der
Willigen ein europäisches Projekt verfolgen.
Das Berliner Biedermeier wirkt nicht, als hätte man verstanden, was gerade
auf dem Spiel steht. Zerbricht die EU unter dem Druck des autoritären
Nationalismus oder geht Europa politisch (und militärisch) gestärkt aus der
Krise hervor?
Hier läge das Grünen-Alleinstellungsthema. Aber sie sehen es gerade nicht.
Im Oktober vergangenen Jahres erschien eine „Grüne Erklärung zur Zukunft
der EU“, in der viel Europa-Pathos und noch mehr Richtiges zu lesen war.
Dass grüne „Kernanliegen“ nur gemeinsam zu bewältigen seien. Der Kampf
gegen den Klimawandel mit einer „starken Klima- und Energieunion“, ebenso
der Kampf gegen Armut nur mit „einer Reform der Wirtschafts- und
Währungsunion“. Ebenso wie „der Kampf gegen Fluchtursachen und Terrorismus…
oder für mehr „Steuergerechtigkeit, sozial-ökologisches Wirtschaften, für
mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte“.
Viel Richtiges also. Doch warum nimmt man den Grünen ihre zum Teil recht
präzise ausgeführten Vorschläge dafür nicht ab? Ihre Kernanliegen haben
sich längst in der Gesellschaft verankert, neu wäre, den Hebel für eine
gemeinsame Strategie in einer offensiven europäische Praxis zu sehen.
## Steilvorlagen für einen Politikwechsel
Das Alleinstellungsmerkmal liegt auf dem Tisch, aber die Grünen und ihre
Anhänger greifen nicht entschlossen genug zu. Da kämpfen die
Völkisch-Autoritären der AfD gegen die EU. Da konzentriert sich Merkel auf
die G 20 und Schulz auf den deutschen Wohlfahrtsstaat. Da proben Liberale
die wirtschaftspolitische Restauration Westerwelle 2.0. Und die Grünen?
Verharren in Schockstarre.
Statt das Vakuum für eine Klientel zu besetzen, die sich seit Wochen auf
den Straßen und Plätzen für Europa ins Zeug wirft und auf eine politische
Repräsentation nur wartet – ein „Wählerpotenzial“ von bis zu 20 Prozent…
mehr.
Trumps Katastrophenpolitik und Erdoğans Ermächtigungsgesetz demonstrieren,
wohin Nationalismus führt. Der Brexit lehrt, wozu ein populistischer
Schnellschuss Europa bringt. Aber die Berliner Politiker mitsamt den Grünen
ignorieren diese Steilvorlagen für einen Politikwechsel in Deutschland.
## Hängt es am Generalverdacht gegen alles „Westliche“?
Man fragt sich nach Gründen für diese Europa-Abstinenz (gegen die jüngere
Fraktionsmitglieder in Bundes- und Landtagen aufbegehren). Hat sie mit
althergebrachten Aversionen gegen multinationale Unternehmen zu tun, die in
der EU agieren? Liegt es an dem kosmopolitischen Anspruch, die Welt als
Ganze zu retten? Ist die EU zu nahe an der Nato? Hängt es mit dem in
postkolonialen Kreisen regierenden Generalverdacht gegen alles „Westliche“
zusammen? Wird Europa mit „liberal“ und liberal mit „neoliberal“
identifiziert? Oder sind arriviert-resignierte Fünfziger bei uns einfach
außer Stande, ein politisches Feuer zu entfachen und einen Anfang zu
setzen?
Meine Kritik hat mit dem üblichen Grünen-Bashing nichts zu tun, für das
alles andere als ein (schon rechnerisch illusionäres) Bekenntnis zu R2G
verderblich ist – angefeuert durch den vermeintlichen Wahlsieg Jeremy
Corbyns, der keiner war, das Lamento eines sympathisch gescheiterten
Demokraten wie Bernie Sanders und den Starrsinn eines Jean-Luc-Mélenchon,
der gegen Europa den gleichen souveränistischen Kampf führt wie die
Dynastie Le Pen.
Vielen Grünen scheint der Wahnsinn im Weißen Haus gerade recht gekommen, um
die vorhandene Distanz zu „Amerika“, dem „Westen“ und dem „Liberalism…
herauszustreichen.
## Zweieinhalb Monate, um Begeisterung zu entfachen
Es gibt noch einen halben Juni, zwei Sommermonate und einen
September-Endspurt, um sich als die Europa-Partei aufzustellen und
Sympathien zurückzuholen. Statt auf (un)mögliche Koalitionen zu schielen,
mit und für Europa politisch zu polarisieren. Statt Kirchentage
aufzuführen, Streit anzufangen. Um in die Offensive zu gehen, Begeisterung
zu entfachen und – wie es Macron gesagt und getan hat: Lust auf Zukunft
machen.
Das wäre keine Abkehr von den grünen „Kernanliegen“. Es wäre die einzige
Möglichkeit, ihnen via Europa in einer widrigen Welt Gehör zu verschaffen.
Die Pferdestärken in die Parlamente zu bekommen, die außerparlamentarische
Bewegungen für Nachhaltigkeit und Solidarität durchaus haben.
Alle grünen „Kernanliegen“ lassen sich europäisch subsumieren: der
Klimaschutz, der sich nach dem halben Ausstieg der US-Administration nur
mit einer besseren Energiepolitik der EU und durch Allianzen mit Staaten
wie Kalifornien, China und Indien retten lässt. Die Verkehrswende, die ein
ob seiner Autoverliebtheit rückständiges Land mit dem Realitätsprinzip
konfrontiert. Der Kampf gegen Steuervermeidung und für eine Besteuerung des
Finanzkapitals. Die Beseitigung des Skandals der Jugendarbeitslosigkeit.
Zauderer, ich meine: Europa zuerst! Ja zu einer nachhaltigen europäischen
Bürger- und Sozialunion!
18 Jun 2017
## AUTOREN
Claus Leggewie
## TAGS
Verkehrswende
Serie „Zukunft Europas“
Schwerpunkt Emmanuel Macron
Jesse Klaver
Pro-Europäer
Schwerpunkt Klimawandel
Jugendarbeitslosigkeit
Bündnis 90/Die Grünen
Emmanuel Macron
Schwerpunkt Emmanuel Macron
Pro-Europäer
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Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Emmanuel Macron
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