| # taz.de -- Debatte Deutschland und die EU: Das neue Selbstbewusstsein | |
| > Deutschland geht es gut, Europa weniger. Dabei brauchen beide einander | |
| > dringend. Die EU muss ihr Selbstbewusstsein von 2004 wiederfinden. | |
| Bild: Die deutsche Bundeskanzlerin und ihre europäischen Kinder? So sollte es … | |
| Das Glück hat sich im vergangenen Jahrzehnt von Europa und Deutschland | |
| entkoppelt. Deutschland geht es prächtig, es strahlt vor Selbstbewusstsein. | |
| Ein Großteil Europas hingegen wird schwächer. Brüssel, die Hauptstadt | |
| Europas, ist ein Schatten ihrer selbst. Es scheint, dass die europäische | |
| Integration das neue Deutschland nicht eingehegt, sondern mächtiger gemacht | |
| hat. | |
| Ist die deutsche Frage zurück? Deutschland konnte in diesem Europa so | |
| prächtig gedeihen, dass es dieses durch seine neue Fülle nun sprengt. Noch | |
| nicht einmal vorsätzlich, es hat sich einfach so ergeben. Auf einmal war | |
| das neue Deutschland so groß und mächtig, dass Europa ziemlich alt aussah. | |
| Interessanterweise war die Reaktion darauf nicht, das europäische Gehege, | |
| die europäischen Institutionen zu stärken, sondern eine Rückbesinnung auf | |
| den scheinbar schon überlebten Nationalismus. Zurück zu Selbstbestimmung | |
| und Souveränität, das Primat der nationalen Interessen. Für einige geht es | |
| jetzt um das Heimholen von Kompetenzen aus Brüssel. Andere fangen an, | |
| deutsche Führung anzubeten. Beides sind Auswüchse von neuem Nationalismus. | |
| Vergessen scheint, dass Nationalismus und deutsche Führung in Europa nie | |
| besonders gut gingen. Mit dem Verweis auf Krisen, mit der Notwendigkeit, | |
| schnell handeln zu müssen, wird Deutschland immer mehr in eine dominante | |
| Rolle gedrängt. So sagte Ende 2011 der damalige polnische Außenminister | |
| Radosław Sikorski: „Ich fürchte die deutsche Macht weniger als die deutsche | |
| Untätigkeit. Sie sind Europas unverzichtbare Nation geworden. Sie dürfen | |
| bei der Führung nicht versagen. Nicht dominieren, sondern bei Reformen | |
| führen.“ | |
| Das klang mutig und radikal aus Polen, das ja eine Menge schlechte | |
| Erfahrung mit deutscher Führung gemacht hatte. Aber er hatte damit einen | |
| Geist gerufen, den man so schnell nicht mehr in die Flasche zurückdrängt. | |
| Warum beschwor er nicht stärkere Führung durch die Europäische Kommission? | |
| Das nämlich wäre übernational, postnational und genau so, wie es gedacht | |
| war von den europäischen Architekten. Stattdessen ruft man nach der Führung | |
| eines nationalen Champions. Und stärkt damit das Denken in nationalen | |
| Kategorien. So hat sich am Ende ein deutsch dominiertes Europa ergeben. Das | |
| war es doch, was wir mit allen Mitteln vermeiden wollten. | |
| ## Ein stabiles Europa ohne nationalen Zank | |
| Die Europäische Union ist eine ziemlich elegante Lösung der deutschen Frage | |
| gewesen. Wenn sich diese nun wieder stellt, hat Europa ein Problem. Deshalb | |
| müssen die europäischen Nachbarn europäische Prozesse und Institutionen | |
| stärken und Deutschland fest einbinden, auch aus nationalem Eigeninteresse | |
| heraus. | |
| Ein neonationales Europa widerspricht den Interessen der europäischen | |
| Länder, das wissen wir aus der Geschichte. Kurzfristig mag es Deutschland | |
| überproportional stärken. Aber mittel- und langfristig widerspricht ein | |
| Europa des nationalen Wettbewerbs auch den deutschen Interessen. Denn ein | |
| stabiles, wohlhabendes Europa ohne nationalen Zank ist auch der beste | |
| Nährboden für das neue Deutschland. | |
| In Berlin hört man nun vielerorts: Was gut ist für Deutschland, sollte doch | |
| auch gut sein für Europa. Die Vereinigung Deutschlands durch die | |
| Integration Ostdeutschlands und die Überwindung der Finanzkrise hatte ja | |
| letztendlich auch geklappt, warum sollte das nicht auch mit Europa | |
| funktionieren? Ärmel hochkrempeln, bis zum Anschlag exportieren, ein paar | |
| Reformen und eine gut ausgerichtete Fußball-WM – so könnte man doch auch | |
| ein neues Europa bauen. Von einem europäischen Solidaritätszuschlag und | |
| Länderfinanzausgleich hört man interessanterweise nichts, obwohl das eine | |
| riesige Rolle beim Bau des neuen Deutschlands spielte. | |
| Deutschland hatte seinen Höhepunkt 1990 mit der friedlichen und feierlichen | |
| Wiedervereinigung. Danach kam eine Minikonjunktur, angetrieben von | |
| Investitionen in den deutsch-deutschen Zusammenschluss, gefolgt von 15 | |
| Jahren Rumwursteln, Krise, Arbeitslosigkeit, schlechtem Fußball und | |
| angekratztem Selbstbewusstsein. Deutschland wurde zum kranken Mann Europas. | |
| Nur in Bayern lief es noch ganz gut. | |
| Dann Reformen, mehr Arbeitslosigkeit, Demonstrationen, Kompromisse und | |
| Abwahl der Regierung. Es folgte eine Wende: neues Wachstum, sinkende | |
| Arbeitslosigkeit, eine klasse Fußball-WM 2006 – Selbstbewusstsein. 2014 | |
| Fußballweltmeister, 2016 laut World Economic Forum das beste Land der Welt. | |
| 25 Jahre von Höhepunkt über Tiefpunkt zu Höhepunkt, zum neuen Deutschland. | |
| Kann das auch der Zyklus zum neuen Europa sein? | |
| ## Europas Selbstbewusstsein kannte kaum Grenzen | |
| Europa hatte seinen Höhepunkt 2004. Die EU wurde um zehn osteuropäische | |
| Länder erweitert, die sich über ein Jahrzehnt durch einen anstrengenden | |
| Aufnahmeprozess gequält und dabei ihr wirtschaftliches und politisches | |
| System grundsätzlich reformiert hatten. Der Euro wurde 2000 eingeführt und | |
| funktionierte anfangs reibungslos. Durch Schengen wurden Grenzkontrollen in | |
| der EU abgeschafft. Bis auf Einzelfälle wie Deutschland brummte die | |
| Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit war historisch niedrig. Die | |
| Zustimmungsraten zur EU stiegen auf ein Zehnjahreshoch. | |
| Kein Wunder, dass fast alle europäischen Länder, die noch nicht in der EU | |
| waren, Aufnahmeanträge stellten. Sogar die Schweiz spielte mit der Idee | |
| eines EU-Beitritts. Das Selbstbewusstsein Europas kannte fast keine | |
| Grenzen. Europa schrieb sich eine tolle neue Verfassung. Dann, 2006, wurde | |
| der Verfassungsentwurf in Frankreich und den Niederlanden in Referenden | |
| abgelehnt und später in einer stark technokratischen Abwandlung ohne | |
| Volkszustimmung verabschiedet. | |
| Das europäische Projekt hatte einen ordentlichen Kratzer am Heck, das | |
| Selbstbewusstsein war demgemäß. Man wurstelte trotzdem weiter. 2008 schlug | |
| die Finanzkrise zu, Immobilien- und Staatsschuldenpyramiden fielen in sich | |
| zusammen, der Euro fing an zu wanken. Das Wachstum sank, die | |
| Arbeitslosigkeit stieg dramatisch. Es gab Streit über den Umgang mit der | |
| wirtschaftlichen und anderen Krisen. | |
| Deutschland verordnete Sparen für alle. Russland machte Ärger in der | |
| Nachbarschaft, aus den Kriegsgebieten im Nahen Osten kamen Flüchtlinge. | |
| Europaskeptische Parteien gründeten sich und kamen in die Parlamente. Die | |
| Zustimmungsraten für Europa sind auf einem Tief, nicht nur in | |
| Großbritannien. Das Selbstbewusstsein Europas ist weg. Nur in Deutschland | |
| läuft es noch ganz gut. | |
| Europa ist nun im Jahr 13 nach seinem großen Höhepunkt. Also ungefähr an | |
| dem Punkt, an dem Deutschland in seinem vorher beschriebenen Zyklus auf dem | |
| Tiefpunkt war. An diesem Punkt fing Deutschland seine Strukturreformen an, | |
| begleitet von massiven Demonstrationen und der Abwahl der Regierung. Die | |
| damals neue Regierung unter Angela Merkel setzte die Reformen ihres | |
| Vorgängers fort, ein Jahr später kam die Fußball-WM, und die | |
| Arbeitslosenzahlen gingen zurück. Das Jahr 16 war die gefühlte Wende im | |
| Deutschlandzyklus. Im Jahr 26 des Zyklus ist das neue Deutschland das beste | |
| Land der Welt. | |
| ## Die Wende kommt | |
| 2017 ist das europäische Wendejahr. Europa ist auf dem Tiefpunkt seiner | |
| Krise, von nun an geht es aufwärts. Die gegenwärtigen Demonstrationen und | |
| Gegenbewegungen sind natürlicher Teil dieser Krise. Aber die Wirtschaft | |
| fasst wieder Fuß, Reformen und Reförmchen greifen langsam. Sicher werden | |
| noch so einige Regierungen fallen. Aber wagen wir einen Blick in die | |
| Zukunft: Die Wende kommt, die Arbeitslosigkeit sinkt, Wachstum entsteht, | |
| und die Fußball-EM, die 2020 das erste Mal in ganz Europa ausgetragen wird, | |
| wird der absolute Hammer. | |
| Überhaupt: Das Selbstbewusstsein steigt. Europa hat den Mut zu ein paar | |
| visionären Initiativen wie zum Beispiel einem europäischen | |
| Länderfinanzausgleich. Angela Merkel wird die erste Präsidentin des | |
| Europäischen Rats und muss sich nun um europäische Interessen kümmern. | |
| Manchmal muss sie dabei auch Deutschland zurückpfeifen. Sie ist eine | |
| Pragmatikerin, das macht sie gut. | |
| Das neue Europa wächst und gedeiht, Schritt für Schritt. Spätestens 2030 | |
| wird Europa vom World Economic Forum offiziell zum besten Kontinent der | |
| Welt gekürt. Brüssel ist die coolste Stadt Europas, sogar der Welt, werden | |
| manche sagen. Und Deutschland? Hat dann gerade wieder den Blues. Aber das | |
| neue Europa greift Deutschland unter die Arme. Wie beim letzten Mal. | |
| Das klingt gut. Aber gehen wird es nur, wenn das neue Deutschland dem neuen | |
| Europa nicht im Wege steht. Wenn sich Deutschland nicht erst wieder in | |
| eigenen schweren Zeiten darauf besinnt, dass es selbst nur gedeihen kann, | |
| wenn es Europa langfristig gut geht. Wenn es sich nicht in eine | |
| Führungsrolle drängen lässt, die die europäischen Strukturen untergräbt und | |
| nationale Konkurrenz aufblühen lässt. | |
| Das neue Deutschland und das neue Europa müssen harmonieren, seine Zyklen | |
| sollten konvergieren, dann wird es was. Und vielleicht geht es ja dann auch | |
| schneller mit der Wende zum neuen Europa. | |
| 19 Jun 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| André Wilkens | |
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