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# taz.de -- Debatte Frankreich-Wahl: It’s Europe, stupid!
> Frankreich ist gespalten in ein offenes und ein geschlossenes Land. Wer
> auch immer gewinnt: Deutschland muss sich bewegen.
Bild: Die ökonomisch in Bedrängnis geratene Nation wird von ihren Verfechtern…
Wenn die Vokabel [1][Leitkultur in Deutschland hochkommt], wird gerne auf
das entspannte Selbstbewusstsein der Franzosen verwiesen, die sich
angeblich leicht auf „eine bestimmte Idee Frankreichs“ verständigen könne…
Davon hatte Charles de Gaulle, Retter der Nation, während der
Präsidentschaftskampagne 1965 gesprochen, als ihn ein Linker (Mitterrand),
ein Zentrist (Lecanuet) und ein Rechtsradikaler (Tixier-Vignancourt)
ärgerten. Es war eine inklusive Idee der Nation in einem Land, das er der
Europäischen Union aufgeschlossen hatte, solange diese nicht zu groß und zu
übergriffig wurde.
52 Jahre später debattieren zwei unsicher gewordene Länder erneut, wie sie
ihre Leitkultur beschreiben sollen, und während in Frankreich wenigstens
ein Kandidat (Macron) nicht aus der EU austreten will, wächst unter dem
Druck des autoritären Nationalismus auch bei uns wieder die Skepsis – nicht
an wirtschafts- und sozialpolitischen Defekten der EU, sondern an einer
bestimmten politisch-kulturellen Idee, die Deutsche, Franzosen e tutti
quanti zur europäischen Gesellschaft zusammenwachsen lässt. Besser: die
ihnen klar macht, dass die Europäisierung längst die soziale Lebenswelt
erreicht hat.
Das macht alle identitären Bekräftigungen von Eigenheiten, an denen im
Übrigen kaum jemand rütteln will und die das Gros der Einwanderer als
Neo-Franzosen und Neu-Teutonen ohnehin annimmt, so hilflos wie gerade im
Fall des Bundesinnenministers, dessen Dekalog nicht Stärke, sondern
Hilflosigkeit demonstriert.
In Frankreich ist die identitäre Versuchung besonders groß. Die ökonomisch
in Bedrängnis geratene Nation, deren Einfluss in der Welt geschwunden ist,
wird von ihren vermeintlich glühendsten Verfechtern als „verletzt“ (Marine
Le Pen) beschrieben, mit einer „offenen, aber gefährlichen Grenze am Rhein“
(François Fillon), hinter der „Bismarcks Hering und deutsches Gift“
(Jean-Luc Mélenchon) lagern. Dagegen wird „la France“ als „unwandelbare�…
Substanz beschrieben, die als Trägerin einer wahlweise
republikanisch-säkularen oder katholisch-reaktionären Zivilisation in der
Welt wirken soll.
Im Reich der Fantasie
Die Leitkultur-„Debatte“ zeigt betrüblicherweise, dass soziologisches
Wissen im politischen Diskurs kaum etwas gilt. Wie oft haben Leute vom Fach
die satten Essenzen und platten Evidenzen, mit denen der identitäre Diskurs
hantiert, ins Reich der Fantasie verwiesen, wie oft haben Historiker
Nationen als wandelbare „imaginierte Gemeinschaften“ beschrieben, die nicht
ab ovo in der Welt sind, sondern über den „Gemeinsamkeitsglauben“ (Max
Weber) als Wirklichkeiten zweiter Ordnung konstruiert werden. Egal – der
banale Nationalismus zieht seine Bahnen, während von souveränen
Nationalstaaten immer weniger übrig bleibt.
In Frankreich haben zwei Demografen und Anthropologen, Hervé Le Bras und
Emmanuel Todd, bereits 1981 die „Erfindung Frankreichs“ aus dem Mosaik
seiner Völker beschrieben, wobei sich zu den autochthonen Bretonen und
Okzitaniern Araber und Inder gesellen können, solange der Zusammenschluss
zum Volk einer politischen Idee entspringt. Also nicht der Herkunft eines
imaginären Français de souche, sondern der Destination eines in der
Sprache, Kultur und in den Sitten des Landes und seiner Übersee-Departments
aufgenommenen Fremden.
Die Unterschiede zwischen Bretonen und Auvergnaten sind in den Datenbänken
der beiden Autoren nicht kleiner als die zwischen Bewohnern der Kabylei und
der Pyrenäen, und die Vielfalt einer Nation beginnt nicht erst, wenn die
Eingewanderten Allah anbeten oder Bengalen sind. Auf Zerrbilder von
Muslimen und Indern bezieht sich der identitäre Diskurs der alten und neuen
Rechten, die bei Gelegenheit durchaus noch Hass auf Juden mobilisieren
können.
In Brest heiratet man anders als im oktizanischen Südwesten, man hat mehr
oder weniger Kinder, andere Essgewohnheiten, sogar die Sterberituale
weichen ab, und wie man jetzt wieder gesehen hat, unterscheiden sich auch
die politischen Präferenzen erheblich entlang einer Linie, die von Le Havre
nach Belfort und in einen etwa 100 Kilometer breiten Streifen an der
Mittelmeerküste führt und sich ins Garonne-Tal zwischen Toulouse und
Bordeaux zurückkrümmt. Und das seit Jahrzehnten, trotz der im besten Sinne
gleichmacherischen Institutionen der Republik (Schule, Kulturkanon und
früher die Armee) und der weniger segensreichen Einflüsse der Hypermarchés
und Fertiggerichte.
Als Strukturalisten hatten Le Bras/Todd seinerzeit wohl zu stark auf
familiale Reproduktionsmuster gesetzt, aber auch die blieben verblüffend
konstant, trotz der hohen Mobilität französischer und ausländischer
Arbeitskräfte fremdeln die „Ch’tis“ (wie sich die Nordfranzosen gerne
selber nennen) andernorts.
Die dicke Spaltungslinie durch Frankreich reproduziert sich nunmehr als
eine zwischen Geschlossenheit versus Offenheit gegenüber Europa. Die
Landkarte belegt nur auf den ersten Blick die Konvergenz der Anhängerschaft
von Marine Le Pen und des Front National mit den fünf
Ungleichheitsindikatoren Arbeitslosenquote, Anteil junger Leute ohne
Berufsabschluss, überdurchschnittliche Armutsbevölkerung, hohe Anzahl
Alleinerziehender, lokale Ungleichheit. Es gibt nämlich Regionen und Zonen,
in denen die fünf Indikatoren noch ausgeprägter sind und Le Pen weit unterm
Durchschnitt reüssiert. Wo der Front National am meisten rekrutieren
könnte, obsiegten die anderen Kandidaten, darunter wesentlich Jean-Luc
Mélenchon und „La France insoumise“. Während Le Pen in Gemeinden mit
weniger als 100 Einwohnern zwischen 30 und 40 Prozent der Stimmen bekam,
sinkt ihr Anteil im Großraum Paris auf 5 Prozent; je bedeutender die
Wirtschaftskraft und Reputation der Städte ist, desto höher ist der Anteil
der Mitte-links-Wähler.
Dort leben, wohl wahr, die meisten leitenden Angestellten und andere gut
dotierte Berufsgruppen, aber allein die sozioökonomische Verteilung machte
die umgekehrte Attraktion Macrons nicht aus. Soziokulturelle Faktoren sind
mindestens ebenso wichtig. Dort leben jene Menschen, darunter solche mit
geringem Einkommen und formellem Bildungsstand, die Frankreich offen halten
wollen für Kontakte mit Europa und dem Rest der Welt. Darunter sind auch
besonders viele Anhänger des „Centre“, frühere Christdemokraten,
Radikaldemokraten und andere Mittelbürger. Typischerweise waren dies die
Ja-Wähler im Referendum zum Maastricht-Vertrag 1992, eine Wahl, die
Frankreichs elektorale Geografie nachhaltig geprägt hat und verständlich
macht, dass es bei der Präsidentschaftswahl letztlich um Europa geht und
eine damit verbundene Lebens- und Herrschaftsform der pluralistischen
Demokratie.
## Die Europa-Karte war ein guter Schachzug von Macron
Es gibt also die „zwei Frankreich“, von denen jetzt alle reden, aber es
sind nicht das linke und das rechte, die Stadt oder das Land, sondern
zunehmend eines, das sich schließt, und eines, das offen bleiben will. Die
Europa-Karte zu ziehen war also ein kunstvoller Schachzug Emmanuel Macrons,
und man darf annehmen, dass es kein rein taktischer war, sondern dass er
seiner tiefen Überzeugung entsprungen war und sich mit den Ambitionen
seiner überwiegend jungen Anhänger „En Marche!“ deckt.
Kompliziert wurde diese Spaltungslinie, weil sie auch von links aufgemacht
wurde. Jean-Luc Mélenchon, seines Zeichens MdEP, also (meist abwesender)
Abgeordneter in einem Parlament, das der europäischen Einigung verpflichtet
sein müsste, stellte sich auf einen ebenso national-souveränistischen
Standpunkt wie Le Pen, von der er sich weltanschaulich ansonsten absetzte.
Mélenchon gab seinem Anti-EU-Programm eine ähnlich „klassenkämpferische“
Note wie der Front National, der unterstellt, von der EU würden nur die
Bonzen und Etablierten vertreten. Macron, den gerade viele als zu leicht
befinden, hat das tertium datur geboten, das der französischen Linken
fehlt, eine intermediäre Ebene zwischen dem nationalen Pathos und einem
abstrakten Universalismus oder, wie zum Beispiel Étienne Balibar schreibt,
einen „eingebetteten Kosmopolitismus“.
Ein Sieg Macrons wird das Verhältnis zum „outre-Rhin“ keinesfalls zum
Honigmond machen. Klar ist er dafür, die „Achse Paris–Berlin“ wieder flo…
zu machen, aber er wird Forderungen an Berlin und Brüssel stellen, die
nicht dem Soft-Brexit nahekommen, den Marine Le Pen aushandeln möchte, aber
eine Weiterentwicklung der EU zu einer nachhaltigen Fiskal- und Sozialunion
impliziert, bei der sich Deutschland mindestens so stark bewegen muss wie
Frankreich.
7 May 2017
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## AUTOREN
Claus Leggewie
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