| # taz.de -- Balibar bekommt Hannah-Ahrendt-Preis: Zwischen Philosophie und Poli… | |
| > Étienne Balibar bekommt den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken. | |
| > Aber was hat der ehemalige Marxist eigentlich mit Hannah-Ahrendt zu tun? | |
| Bild: Versteht sich als handelnder Intellektueller: Étienne Balibar | |
| Als Étienne Balibar das erste Mal Hannah Arendts Werk entdeckte, hat er als | |
| Kommunist in seiner Art ihr Werk „natürlich nicht gemocht“. Damals – in … | |
| 1960er-Jahren – war sie in Frankreich vorwiegend als die Theoretikerin der | |
| Affinitäten zwischen dem nationalsozialistischen und dem sowjetischen | |
| Regime bekannt und vor allem antikommunistische Denker beriefen sich auf | |
| ihr Werk. | |
| Einem marxistisch geprägten Philosophen wie Balibar konnte das nicht | |
| gefallen. Dass sie in Frankreich überwiegend dafür bekannt war, hatte mit | |
| der französischen Ausgabe von „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ | |
| zu tun, in welcher der zentrale Teil über den Imperialismus einfach nicht | |
| stand. | |
| ## Mit Arendts Hauptwerk gefremdelt | |
| Zehn Jahre später begegnete Étienne Balibar wieder Arendts Werk, als er als | |
| Gastprofessor in einer niederländischen Universität eingeladen wurde. Dort | |
| war sein Kollege ein Schüler der politischen Denkerin. Mit ihm und dank der | |
| neuen französischen Ausgabe von „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft�… | |
| entdeckte Balibar, wie Arendt den Imperialismus als eine der Ursache des | |
| Nazismus und des Rassismus betrachtete. Das versöhnte den | |
| anti-rassistischen Philosophen mit Arendt. | |
| In ihrem Werk entdeckte Balibar auch Arendts Konzept des „Rechts auf | |
| Rechte“. Der Ausdruck wird heute häufig von Aktivisten und Denkern benutzt, | |
| die sich mit Menschenrechten und dem Thema der Ein- und Ausschließung aus | |
| einer Gesellschaft auseinandersetzen – wie Balibar selbst. Nach dieser | |
| erneuten Lektüre hat er getan, „was man in solchen Fällen macht“, und zwar | |
| ihr gesamtes Werk gelesen. | |
| Hannah Arendt hat im Denken des 75-jährigen Philosophen Karl Marx aber | |
| nicht ersetzt. Stark von der marxistischen Doktrin beeinflusst, lässt sich | |
| Balibar von Arendts Denkweise inspirieren. „Arendt ist für mich das Vorbild | |
| einer Person, die sich immer am Schnittpunkt des Denkens und des | |
| öffentlichen Lebens befinden wollte.“ Daher fühle er sich sehr geehrt, den | |
| Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken heute im Bremer Rathaus zu | |
| bekommen. „Es ist vielleicht ein bisschen prätentiös, aber manchmal, wenn | |
| ich mich mit heutigen Fragen auseinandersetze, sage ich mir, dass sie | |
| vielleicht auf gleiche Weise versucht hätte, diese Probleme zu | |
| beantworten“, sagt Balibar mit einem Lächeln. | |
| Der Hannah-Arendt-Preis wird an Menschen verliehen, die mit einer mutigen | |
| Intervention das „Wagnis Öffentlichkeit“ annehmen – so wie es Hannah Are… | |
| selbst tat, als sie über den Prozess gegen den Organisator des Holocaust, | |
| SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, berichtete. Étienne Balibar sieht | |
| sich in dieser Tradition und nimmt am öffentlichem Leben teil, indem er | |
| sich links und antirassistisch engagiert. Auf die Frage warum, erzählt der | |
| Philosoph von seiner Jugend und von Frankreichs Algerienkrieg. | |
| ## Politisiert von Frankreichs Krieg in Algerien | |
| Étienne Balibar wurde 1942 in einer Kleinstadt in der Bourgogne geboren. | |
| Beide Eltern waren republikanisch gesinnte Lehrer. Mit 18 beginnt er ein | |
| Philosophie-Studium an der École Normale Supérieure, einer Elitehochschule | |
| in Paris. Diese Zeit war stark vom Algerienkrieg geprägt, der 1954 begonnen | |
| hatte, besonders innerhalb des intellektuellen Pariser Milieus. Ein | |
| wichtiger Grund dafür war, dass für die Zeit des Studiums die Wehrpflicht | |
| ausgesetzt wurde. „Wenn ich Bauer oder Arbeiter gewesen wäre, hätte ich | |
| mich entscheiden müssen, ob ich in den Krieg ziehe oder desertiere“, | |
| erzählt der Philosoph. „Ich fühlte mich sehr privilegiert und fühle mich | |
| immer noch so.“ | |
| Viele Intellektuelle kompensierten ihr Gefühl, eine Schuld abtragen zu | |
| müssen, mit der Hinwendung zum Marxismus. Auch der Zeitgeist nach dem | |
| Zweiten Weltkrieg in Frankreich spielte eine Rolle und Intellektuelle wie | |
| Jean-Paul Sartre, der ein wichtiger Exponent des Marxismus war. Balibar | |
| zitiert ihn: „Der Marxismus ist der unüberschreitbare Horizont unserer | |
| Zeit.“ | |
| ## Die Partei der 75.000 Erschossenen | |
| Offensichtlich habe das so nicht gestimmt, die Doktrin sei aber für | |
| Studierende attraktiv gewesen, auch weil Sartre „kein Salon-Denker“ war. | |
| Sartres Philosophie war eng mit dem Handeln verbunden, zum Beispiel, als er | |
| über die Notwendigkeit schrieb, sich radikal gegen den Kolonialismus zu | |
| engagieren. „Der Marxismus schien die Philosophie einerseits und das | |
| Handeln andererseits besonders gut zu verkörpern“ fasst Balibar zusammen. | |
| Als logische Folge tritt Balibar 1961 in die kommunistische Partei (PCF) | |
| ein. Sein marxistischer Professor an der École Normale Supérieure, Louis | |
| Althusser, war ebenfalls Mitglied. Vom Ende des Krieges bis in die | |
| 1970er-Jahre war die sogenannte „Partei der 75.000 Erschossenen“ | |
| (Widerstandskämpfer) bei Wahlen erfolgreich. 1962 erhielt die PCF 22 | |
| Prozent bei der Wahl zur Nationalversammlung und stellte 40 Abgeordnete. | |
| Étienne Balibar erlebte auch den Niedergang der PCF. 1981 wurde er nach der | |
| Veröffentlichung eines Textes über rassistische Tendenzen in der Partei – | |
| „De Charonne à Vitry“ – ausgeschlossen. Anlass für diesen Text war die | |
| Zerstörung eines Lagers von Arbeitern aus Mali in einem kommunistischen | |
| Vorort von Paris. | |
| Das antirassistische Engagement des Philosophen geht auch auf seine | |
| Erfahrungen aus der Zeit des Algerienkriegs zurück. Es war nicht nötig, | |
| nach Algerien zu fahren, um die Gewalt des Krieges zu erleben: Im Oktober | |
| 1961 beging die französische Polizei ein Massaker gegen algerische | |
| Demonstrierende, die sich der für sie eingerichteten Sperrstunde | |
| widersetzten. | |
| Wie viele genau ermordet wurden, ist bis heute ungewiss – mindestens 38, | |
| vielleicht knapp 200. Der Massenmord ist einem Teil der Gesellschaft stark | |
| in Erinnerung geblieben. Für Balibar und andere seiner Generation war es | |
| unerträglich festzustellen, dass die französische Gesellschaft auch | |
| institutionalisierten Rassismus ausübte, nachdem sie gegen Nazi-Deutschland | |
| gekämpft hatte. | |
| ## Europäischer Intellektueller | |
| Auch nach seinem Rausschmiss aus der kommunistischen Partei bleiben | |
| Philosophie und Politik bei Balibar eng miteinander verbunden. „Zwischen | |
| den beiden Polen des menschlichen Lebens, der Spekulation und dem | |
| Engagement, gibt es eine Art Dauerkampf“, sagt Balibar. „Ich kenne keinen | |
| großen Philosophen, der nicht manchmal auch Politik gemacht hat“, behauptet | |
| er. „Ob im Guten oder Schlechten.“ | |
| Bei einem Philosophie-Professor sei die Verbindung zwischen Philosophie und | |
| Politik noch stärker, weil er Studierende beeinflussen könne. Balibar | |
| verweist auf einen weiteren Philosophen – Spinoza diesmal –, der einen | |
| Lehrstuhl für Philosophie abgelehnt habe, weil er keine Macht über andere | |
| Menschen haben wollte. Den 75-jährigen Professor beschäftigt das verminte | |
| Gelände zwischen Philosophie und Politik. „Wenn ich meine Studierenden in | |
| die falsche Richtung führe, kann es zu spät sein, wenn sie es bemerken.“ | |
| Als Mensch an der Kreuzung des Denkens und des Handelns ist Balibar ein | |
| Intellektueller in der Tradition von Sartre und Foucault, indem er seine | |
| rhetorischen Fähigkeiten nutzt, um öffentlich einzugreifen, und zu | |
| versuchen, die Weltöffentlichkeit zu beeinflussen. Als ehemaliger | |
| Studierender einer Pariser Elitehochschule und Philosophie-Professor in | |
| Paris, London und New York gehört er auch zu diesem intellektuellen Milieu | |
| – zahlreiche der großen Namen der Philosophie des 20. Jahrhunderts sind | |
| Kommilitonen, Professoren oder Kollegen gewesen. | |
| Auch wenn Balibar für eine Demokratisierung des Intellektuellen steht, | |
| hofft er trotzdem, eine Rolle spielen zu können. „Ich nehme für mich die | |
| Verantwortung an, das Allgemeinwohl, wie ich es sehe, im öffentlichen Raum | |
| zu vertreten.“ Und mit einer abwehrenden Geste ergänzt er: „Ich bin nicht | |
| Sartre, Foucault oder Arendt.“ | |
| Nicht zuletzt sein Engagement für Europa hat Balibar den | |
| Hannah-Arendt-Preis eingetragen. „Ich tue gemeinsam mit anderen mein Bestes | |
| für ein anderes Europa“, sagt er. Der europäische Aufbau sei an einem toten | |
| Punkt angelangt. Dagegen schlägt der Europäer eine Lösung vor: „Wir müssen | |
| Europa wieder neu gründen und nicht nur von oben, sondern von unten.“ | |
| Im Hinblick auf seine Philosophie interessiert ihn das emanzipatorische | |
| Potenzial von Institutionen. Er setzt sich dafür ein, dass ein Element des | |
| Aufbegehrens in den europäischen Aufbauprozess eingeführt wird. Balibar | |
| freut sich über jede autonome Äußerung und jede kollektive Initiative, die | |
| zeigt, dass die Bürger aktiv an der Gestaltung ihres Gemeinwesens | |
| teilnehmen wollen. | |
| 1 Dec 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Adèle Cailleteau | |
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