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# taz.de -- Étienne Balibar über Europa: „Eine konstruktive Linke ist wicht…
> Der französische Philosoph kritisiert die Widersprüche der europäischen
> Integration – und plädiert für eine linke proeuropäische Position.
Bild: Alexis Tsipras, Spitzenkandidat der Europäischen Linken für die Präsid…
taz: Herr Balibar, am 25. Mai wird in Europa gewählt. Durch die europäische
Banken- und Staatsschuldenkrise haben sich die Gegensätze zwischen den
EU-Ländern vergrößert. Was bedeutet das für die Zukunft Europas?
Étienne Balibar: Was früher die Teilung in Ost und West war, ist heute ein
scharfer Abgrund zwischen Süd und Nord, zwischen Gläubigernationen und
Schuldnerstaaten. Die Frage ist: Wie groß kann der Abgrund, das
Wohlstandsgefälle werden, ohne dass die EU auseinanderbricht?
Sie diagnostizieren ein Legitimitätsdefizit der europäischen Institutionen
und des Krisenmanagements von Europäischer Kommission und Europäischer
Zentralbank.
Ich bin Realist und leugne nicht, dass es historische Situationen geben
kann, wo in einem Ausnahmezustand eine Art von autoritärer Legitimität
außerhalb demokratischer Prozesse entstehen kann. Das ist mehr oder weniger
das, was die Europäische Kommission und die europäische Zentralbank seit
mehreren Jahren versuchen: ihre Politik durch eine Art Revolution von oben
durchzusetzen. Allerdings glaube ich nicht, dass dies funktionieren wird,
weil die öffentliche Meinung dies nicht länger unterstützt. Auch weil es
nicht mit dem Widerstand der verschiedenen Länder zusammengeht,
einschließlich Deutschlands. Ich glaube nicht, dass diese Widersprüche mit
dem derzeitigen politischen Instrumentarium Europas aufgelöst werden
können.
Was bedeutet das für die EU-Wahlen? Das Europäische Parlament hat ja seit
dem Vertrag von Lissabon mehr Mitspracherecht.
In der Tat, das EU-Parlament wird zum ersten Mal beim Präsidenten der
EU-Kommission ein Veto haben, und ich denke, dass das keine
Nebensächlichkeit ist. So wie sich die Dinge heute darstellen, gibt es
mehrere wahrscheinliche Szenarien. Darunter das Szenario, dass es natürlich
sein kann, dass sich gar nichts ändert. Bei den letzten EU-Wahlen gab es
eine Tendenz zu sinkender Wahlbeteiligung, weil die WählerInnen eben nicht
davon überzeugt waren, dass die Wahlen irgendwelche Auswirkungen haben
können. Nun, diese Ansicht werden sie nicht ablegen, nur weil ein paar
institutionelle Modifikationen angekündigt worden sind.
Wie schätzen Sie den antieuropäischen Populismus ein?
Ich denke, dass wir damit beginnen sollten, den sehr konfusen Begriff des
Populismus in Frage zu stellen. Viele Politiker und Politologen verwenden
den Begriff im Wesentlichen dazu, eine Politik zu disqualifizieren, die die
Massen mobilisiert und die Interessen der Armen vertritt, und um den
Eindruck zu erzeugen, dass die extreme Rechte und die extreme Linke
auswechselbar sind. Was grundfalsch ist. Aber natürlich kann die zunehmende
Verzweiflung eines großen Teils der Bevölkerung zu einem Erstarken der
extremen Rechten und des Nationalismus führen, wenn die Demokraten ihr
nicht Ausdruck verleihen. Wenn uns die Geschichte eines lehrt, dann dies.
Ist der Populismus nicht in mancher Hinsicht ein Nebenprodukt der
Entwicklung der EU und ihrer Krise?
Ganz allgemeinen gesprochen glaube ich, dass zwei teils widersprüchliche
Bedingungen erfüllt sein müssen, damit sich Populismen entwickeln können:
einerseits eine konservative, antisozialistische Tradition, andererseits
ein Nationalismus, der von dem Gefühl verschärft wird, dass Europa nur mehr
ein Werkzeug der Globalisierung ist. Die Populisten der Rechten haben
keinen Anspruch, Europa zu regieren, aber der politische Druck, den sie
ausüben, wird immer stärker zu spüren sein, was sehr ernste Folgen vor
allem für Themen wie Einwanderung, die Roma, die religiösen oder sexuellen
Minderheiten hätte.
Die Linke tut sich schwer, eine EU-kritische und zugleich proeuropäische
Position als überzeugende Alternative unter die Leute zu bringen.
Ich habe die Schwäche der Linken auf europäischer Ebene oft beklagt. Aber
Spinoza sagt: „Weine nicht, lache nicht, sondern versuche zu verstehen.“
Nun gut, eines der Symptome der gegenwärtigen politischen Krise, die auch
eine moralische Krise ist, ist die Unfähigkeit der existierenden
politischen Kräfte, sich auf europäischer Ebene zu organisieren, und zwar
sogar dann, wenn ihre Interesse überlappen. Die Einzigen, die es wirklich
versucht haben, eine transnationale politische Bewegung aufzubauen, waren
die Grünen, und sie sind damit letztlich gescheitert. Mir schwebt eine
Alternative Partei für Europa vor. Partei natürlich im breiten, Marx’schen
Sinne, keine Organisation, sondern eine Orientierung, die nicht sehr
mächtig sein muss, aber zumindest existieren sollte.
Das heißt, Europa ist für Sie noch zu retten?
Es ist wichtig für die Linke in Europa, nicht nur dem antieuropäischen
Ressentiment zu widerstehen, sondern darüber hinaus konstruktiv zu sein,
alternative Visionen und Vorschläge hervorzubringen, so kohärent und
konsistent das eben möglich ist. Das ist auch einer der Gründe, weswegen
ich mich freue, dass der Sprecher der griechischen Partei Syriza, Alexis
Tsipras, bei den EU-Wahlen zumindest symbolisch als Spitzenkandidat der
Europäischen Linken für die Präsidentschaft der Europäischen Kommission
kandidiert: radikal kritisch dem gegenüber, was die EU als Maschine der
neoliberalen Strukturanpassung anrichtet, aber zugleich mit der Forderung
nach politischen und institutionellen Veränderungen der europäischen
Konstruktion, und nicht ihrer bloßen Auflösung oder Zerschlagung.
Sie haben vor Kurzem in einem Artikel beleuchtet, wie in Europa ein
deutscher Hegemon an die Stelle des traditionellen franko-deutschen
Gespanns getreten ist, und haben prognostiziert „Es wird für lange Zeit
eine deutsche Frage in Europa geben.“
Ja. Sobald ich das geschrieben hatte, dachte ich, ich hätte hinzufügen
sollen: Und es wird eine französische Frage geben, eine italienische Frage,
eine polnische Frage usw. Aber klar, von außen betrachtet, aus dem Süden
Europas oder von Frankreichs Warte aus, ist die Hegemonie Deutschlands
unverkennbar. Nicht nur weil wir sehen, wie die französische Regierung mit
allen Tricks versucht, entweder die Vormacht Deutschlands auszugleichen
oder wieder in das Führungstandem kooptiert zu werden. Etwa als der
französische Präsident Hollande versuchte, so etwas wie ein Gegengewicht in
Europa aufzubauen, eine „Latino-Allianz“ mit Italien und Spanien, um
zumindest für einen Moment der Sparpolitik zu widerstehen, was bald
gescheitert ist. Die Hegemonie ist also sehr sichtbar.
Gewiss, nur wie sollen wir damit umgehen?
Ich befürchte, dass dies zu sehr simplistischen und nationalistischen
antideutschen Ressentiments in Europa führen wird, etwa was ich vor einiger
Zeit sowohl in Griechenland als auch in Italien gehört habe. Es fielen Satz
wie „Frau Merkel gelingt jetzt, woran Hitler gescheitert ist: ein deutsches
Europa zu schaffen“. Deshalb finde ich es auch so wichtig, dass es eine
innerdeutsche kritische Reflexion über die Machtkonstellation in Europa
gibt und dass diese Reflexionen auch zu einem europäischen Austausch
führen.
27 Apr 2014
## AUTOREN
Pepe Egger
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