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# taz.de -- Angriff auf Arendt-Preisträger: Missbrauchtes Gedenken
> Der Vorsitzende der Bremer Deutsch-Israelischen Gesellschaft nutzt den 9.
> November um den diesjährigen Hannah Arendt-Preisträger zu diffamieren.
Bild: Gegossenes Blei: israelische Militäroperation im Jahr 2009
Der 9. November ist ein wichtiger Gedenktag. Das bedeutet nicht, dass an
ihm politischer Streit zum Schweigen kommen müsste. Es stellt aber hohe
Anforderungen an die Äußerungen, die unter diesem Datum getätigt werden:
Palästina-Solidaritäts-Veranstaltungen wirken im Kontext der Erinnerung an
die Reichspogromnacht zuverlässig wie eine unangemessene Provokation.
Umgekehrt ist es notwendig, Vorwürfe, die an jenem Tag erhoben werden,
darauf zu prüfen, ob sie nicht für den Resonanzraum des
Menschheitsverbrechens der Shoah, an dessen Beginn hier erinnert wird, zu
kleine Münze sind.
Das gilt für Hermann Kuhns auf den 9. November terminierten „Offenen Brief
an den Trägerverein des Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken“.
Darin greift er, volle drei Monate nach dessen Bekanntgabe, den
diesjährigen Arendt-Preisträger Étienne Balibar an. Der
Veröffentlichungstermin wirkt dabei wie eine unstatthafte
Funktionalisierung des Datums, das mangels Substanz den Vorwürfen Gewicht
verleihen soll: Anstoß nimmt Kuhn daran, dass Balibar, 1942 geborener
französischer Philosoph, der seit 1965 als Autor und Ko-Autor von immerhin
20 durchaus gewichtigen monografischen Werken in Erscheinung getreten ist,
einen Offenen Brief unterzeichnet hat.
Nicht den, mit dem etliche renommierte Linksintellektuelle jüngst gegen den
Auftritt von AfD-Philosoph Marc Jongen am New Yorker Hannah Arendt-Center
protestiert hatten. Sondern ein vor acht, fast neun Jahren publiziertes
Dokument: Der Appell „Israel must lose“ war im Januar 2009 im Guardian
veröffentlicht worden. Er reagierte auf den im Dezember ausgebrochenen
Gaza-Krieg: Die Verantwortung dafür hatte der Appell bei Israel verortet.
In einem demagogischen Doppelschritt unterstellt nun Kuhn ohne jeden Beleg
Balibar die Autorschaft des Aufrufs und erweitert zugleich dessen
Schuldzuweisung: „Israel ist nach Balibars Aufruf allein für alles
verantwortlich“, schreibt er.
Das wäre in der Tat eine Dämonisierung nach bekanntem, antisemitischem
Muster. Nur entstellt die Kuhn-Lektüre den Appell, um das behaupten zu
können. Tatsächlich stünde es im Widerspruch zu allem, was Balibar zum
Nahost-Konflikt je geschrieben hat. Im Gegenteil: Der nämlich warnt vor
moralisch einseitigen Deutungen des Konflikts als eines Krieges Gute gegen
Böse. Er insistiert darauf, dass er von „der arabischen Welt“ ausgelöst
(déclenchée) wurde.
Deren Verrat an den Palästinensern hat er fest im Blick. Und er neigt nicht
dazu, den palästinensischen Terror zu verharmlosen: Dieser sei
„autodestructeur“, selbstzerstörerisch, bringe die Möglichkeit aller
Übergangsabkommen und Versöhnungsversuche in Gefahr und eröffne
„ausschließlich nihilistische Perspektiven“, schreibt er in „De
l'universalité de la cause palestinienne“.
Davon weiß Kuhn offenbar nichts. Und weil ihm der Vorwurf denn doch auch zu
undramatisch geschienen haben dürfte, verschmelzen unter seiner Feder im
Weiteren die Forderungen des Guardian-Appells ohne nähere Quellenangaben
mit den Aussagen der Boykottbewegung BDS (Boycott, Divestment and
Sanctions). Dessen Initiatoren, so viel ist richtig, wollen ein Palästina,
das sich über das gesamte Territorium „zwischen Mittelmeer und Jordan“
erstreckt. Kuhn fordert nun, vom Arendt-Preis-Verein, „sich zu diesem
Denken ihres [sic!] Preisträgers zu erklären und sich davon zu
distanzieren“.
Schwierig. Denn: zu diesem Denken Ètienne Balibars kann sich nur erklären,
wer es ihm wie Kuhn unterstellt. Wer dessen Werk hingegen mehr als
gerüchteweise zur Kenntnis nimmt, wird es als Aufforderung zur
Auseinandersetzung verstehen – als Angebot, zuzustimmen, oder zu
widersprechen, kurz: als politische Philosophie.
10 Nov 2017
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
Gaza-Krieg
Hannah Arendt
Philosophie
Bremen
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