# taz.de -- Bremen als Diskurs-Babel: Denken auf der Flucht | |
> Bremen ist die Stadt des Hannah-Arendt-Preises für aktuelles politisches | |
> Denken. Im Jubiläumsjahr lud die Jury zum Dialog über eine „Welt in | |
> Scherben“. | |
Bild: Lässt heute noch die Köpfe rauchen: Hannah Arendt | |
Kann man heute noch ein Europäer aus Leidenschaft sein? Das etwas gestelzte | |
Stichwort nahm Daniel Cohn-Bendit umso geschickter auf: Ja, er leide an | |
Europa, erklärte der Hannah-Arendt-Preisträger von 2001. Einen Skandal | |
nannte der das Wort des polnischen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk, „diese | |
Flüchtlingswelle ist zu groß“ und müsse gestoppt werden. Er höre sich | |
plötzlich im französischen Fernsehen die deutsche Kanzlerin Angela Merkel | |
loben, so Cohn-Bendit. „Da läuft etwas schief. Mit diesen Politikern werden | |
wir Europa nicht schaffen.“ | |
Zuvor hatte die Philosophin Agnes Heller – Preisträgerin 1995, selbst 1977 | |
aus Ungarn geflüchtet und, wie Arendt, Jüdin – in der Diskussion um die | |
„Welt in Scherben“ den Mangel an utopischem Denken beklagt. „Europa ist f… | |
mich die letzte große Utopie“, bekannte nun Cohn-Bendit. Aber wenn sogar in | |
Frankreich die „National-Egoisten“ des Front National stärkste Partei | |
würden, „dann sind wir schachmatt“. Vielleicht, so Cohn-Bendit über die | |
Gefühlslage in Frankreich, „hält die Mehrheit der Bürger die Unsicherheit | |
nicht aus“. | |
Statt einen weiteren Preis zu vergeben, hatte die Jury des | |
Hannah-Arendt-Preises am 5. Dezember Menschen ins Bremer Rathaus | |
eingeladen, die ihn in den vergangenen Jahren erhalten hatten: zu einem | |
aktuellen Dialog über Ursachen und Folgen der derzeitigen neuen | |
Fluchtbewegung. Stimmig, denn immerhin erinnert der Preis seit 20 Jahren an | |
eine profilierte Denkerin die 1933 ihrerseits aus Deutschland fliehen | |
musste. Cohn-Bendit erinnerte nun an eine Art furchtbares Déjà-vu: Vor 75 | |
Jahren, im Juli 1938, trafen sich im französischen Badeort Evian-les-Bains | |
die Politiker Europas – und hielten sich vornehm zurück. Im März hatte | |
Hitler Österreich ans Deutsche Reich „angeschlossen“, es gab wiederholt | |
antisemitische Ausschreitungen. | |
Angeregt hatte die Tagung US-Präsident Franklin D. Roosevelt, Thema waren | |
Flucht und Flüchtlingskontingente. Die Konferenz malte sich aus, dass nach | |
den 520.000 Juden aus Deutschland vielleicht noch weitere 1,5 Millionen aus | |
Polen kommen würden und obendrein weitere Millionen aus anderen | |
europäischen Ländern. Und die Teilnehmer kapitulierten: Kein Land lockerte | |
die Aufnahmebedingungen, kein Land erhöhte auch nur die Einwandererquote. | |
## Behütetes Europa | |
Was für Cohn-Bendit „Utopie“ ist, nannte der Schriftsteller Navid Kermani, | |
Preisträger von 2011 und selbst Sohn iranischer Flüchtlinge, „unsere kleine | |
behütete Welt zwischen Nordschweden und Spanien“. Dieses Europa könne sich | |
nicht weiter abschirmen in einer Welt der Informationsglobalisierung. | |
Kermani ist für seine Brückenschläge zwischen Islam und der Tradition der | |
Aufklärung bekannt. Auch säkulare Gesellschaften bräuchten eine | |
sinnstiftende, metaphysische Dimension, erklärte er nun in Bremen – ein | |
Plädoyer dafür, religiöse Bindungen zu akzeptieren. Kermanis offener Islam | |
freilich ist weit entfernt vom derzeitigen muslimischen Mainstream. | |
Auffallend war: Die lange Reihe osteuropäischer Preisträger – von Agnes | |
Heller über den letztjährigen Preisträger, den Ukrainer Jury Andropowich | |
bis hin zu Vaira Vīķe-Freiberga, die von 1999 bis 2007 Präsidentin | |
Lettlands war und den Preis 2005 erhalten hatte – diskutierte diese Fragen | |
als Problem für Europa. Ein spezifisches politisches Denken dreht sich dort | |
offenbar nach wie vor um die Frage, wie eine im Sinne der europäischen | |
Tradition freiheitliche Gesellschaft entwickelt werden kann, aber eben mit | |
hinreichend starkem nationalem Selbstbewusstsein zur Abgrenzung vom | |
bedrohlichen Nachbarn Russland. Die Krise der islamischen Welt will in | |
jenem Teil Europas mancher von sich fernhalten – und höchstens, wie | |
Cohn-Bendit spottete, ein paar Katholiken aufnehmen. | |
## Erschütterte Freiheit | |
Dass eine Bevölkerungsmehrheit Verunsicherung nicht aushält, ist aber | |
gerade kein Phänomen post-stalinistischer Gesellschaften in Osteuropa, | |
sondern erschüttert ja gerade auch Frankreich, diesen Hort der westlichen | |
Freiheitstradition. Liegt das vielleicht daran, dass in Frankreich die | |
Hoffnung, es ließen sich Millionen syrischer Flüchtlinge in Europa | |
integrieren, nicht wirklich Platz greifen kann angesichts der Erfahrung, | |
wie viele Algerier und andere nordafrikanische Einwanderer nach wie vor in | |
Vorstädten leben, die als Problem-Bezirke gar den Franzosen als „Ghettos“ | |
erscheinen? | |
Vielleicht hätte Julia Kristeva, die große französische Philosophin und | |
Psychoanalytikerin, wiederum selbst einst aus Bulgarien geflüchtet und | |
Preisträgerin von 2006, dazu klare Worte gefunden. Leider musste sie | |
erkrankt absagen. Auf Deutsch erschien von ihr zuletzt das Buch „Dieses | |
unglaubliche Bedürfnis zu glauben“ (Psychosozial-Verlag 2015, 173 S., 22,90 | |
Euro). Kristeva schreibt darin von „terroristischen latenten und immanenten | |
Strömungen“ des Gehorsams, die es dem Islam schon vor den heutigen | |
politisch-ökonomischen Gründen schwer gemacht hätten, „interpretierend auf | |
die eigene Geschichte zurückzublicken“ – und damit innere autoritäre | |
Bindungen zu lockern. | |
Der Islam, so Kristeva, „steckt im fundamentalistischen Sumpf fest“ und | |
werde seine „Hassliebe“ nur überwinden können, das Bedürfnis zu Glauben … | |
immer neuen Interpretationen und Variationen weiterentwickeln“ können, | |
„wenn er einen Schritt zur Seite tritt, wenn er sich selbst zum Gegenstand | |
des Nachdenkens macht“. | |
10 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Klaus Wolschner | |
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