# taz.de -- Nachruf auf Ágnes Heller: Ungarns Gewissen | |
> Erst überlebte Heller die Nazis, dann verbot ihr die KP zu publizieren. | |
> Zuletzt verfolgten sie die Büttel von Viktor Orbán mit Rufmordkampagnen | |
Bild: Agnes Heller im Jahr 2011 in Budapest | |
WIEN taz | Das Apartment, das Ágnes Heller zuletzt in Budapest bewohnte, | |
gewährt einen großzügigen Blick auf die Donau und die Petöfi-Brücke. Nur | |
wenige hundert Meter flussaufwärts erinnern bronzene Schuhe am Kai an das | |
Massaker an Tausenden Juden 1944, das – so Augenzeugen – das Wasser des | |
Stroms rot gefärbt habe. Heller, damals 15-jährige Tochter aus jüdischem | |
Bürgerhaus, hat mit ihrer Mutter durch eine Mischung aus eigenem Geschick | |
und purem Glück überlebt. Dreimal soll sie der Deportation oder dem | |
Erschießungskommando entkommen sein. Der Vater, der selbst vielen Juden zur | |
Ausreise verholfen hatte, als die Nazis kamen, starb 1945 in Auschwitz, | |
wohin ihn die faschistischen Pfeilkreuzler deportiert hatten. | |
Einen guten Teil ihres philosophischen Lebens wurde Heller von der Frage | |
umgetrieben, wie Auschwitz und die sowjetischen Gulags passieren konnten: | |
„Wie können Staaten und Gesellschaften zustande kommen, in denen so etwas | |
selbstverständlich praktiziert wird?“ Im hohen Alter resümierte sie: „Auf | |
diese Fragen habe ich keine Antwort bekommen, denn wo es Tausende Antworten | |
gibt, gibt es keine Antwort.“ Die Antwort sei „nur in Taten zu finden, dass | |
man so etwas nicht mehr tut“. | |
Schon als Jugendliche war Heller mit ihrem wachen Geist aufgefallen. Sie | |
erinnerte sich an ihren ersten Freund, der erstaunt konstatierte: „Wie | |
gescheit du bist, obwohl du ein Mädchen bist!“ Seither zog sie die | |
Gesellschaft von Philosophen vor. | |
Dass Ágnes Heller überhaupt zur Philosophie kam, verdankt sie einer Art | |
Erweckungserlebnis. Nach dem Krieg studierte sie in Budapest Physik und | |
Chemie, als sie sich in eine Vorlesung des marxistischen ungarischen | |
Starphilosophen György Lukács (1885–1971) setzte. Sie erinnerte sich noch, | |
dass sie zwar nichts verstanden habe, „aber ich wusste, dass es das | |
Wichtigste war, was ich je hörte“. Also wechselte Heller die Fakultät und | |
wurde bald Meisterschülerin des Philosophen, promovierte 1955 und wurde | |
Assistentin von Lukács. Anfangs engagierte sie sich als Zionistin, dann | |
trat sie mit Lukács der Kommunistischen Partei bei. Der ungarische | |
Volksaufstand von 1956 brachte sie ins Lager der Dissidenten, die den | |
sogenannten real existierenden Sozialismus unter der Schirmherrschaft der | |
Sowjetunion infrage stellten. | |
Die Konsequenz ihrer kategorischen Ablehnung totalitärer Systeme war der | |
Rauswurf aus der Uni und ein Publikationsverbot. Dem war eine mit der | |
Drohung der Hinrichtung erpresste demütigende Selbstkritik vorausgegangen. | |
Rechte Medien haben in den letzten Jahren einen Brief ausgegraben, den | |
Heller 1959 an die Kommunistische Partei geschrieben haben soll. Darin | |
verurteilt sie den Aufstand von 1956 als Konterrevolution und bittet, | |
wieder an der Universität arbeiten zu dürfen. Heller bestritt die Echtheit | |
dieses Schreibens. | |
Mit marxistischer Analyse formulierte Heller eine „Theorie der | |
Bedürfnisse“, der folgerichtig eine Kritik an der „Bedürfnisdiktatur“ in | |
den Ländern des osteuropäischen Realsozialismus entsprang. Heller | |
charakterisiert die Gesellschaften als „totalitäre Systeme“, in denen der | |
Mensch Untertan sei und keine staatsfreien Räume vorfinde. „Damit stellt | |
die Sowjetgesellschaft den vollständigen Gegensatz zu dem Programm dar, das | |
der frühe Marx einmal entworfen hatte“, so 1983 Hellers Weggefährte, der | |
deutsche Politologe Iring Fetscher. Den hatte Heller 1965 auf der | |
Adria-Insel Korčula, kennengelernt, wo jugoslawische Philosophen | |
Denker-Konferenzen veranstalteten. Dort traf sie auch auf Jürgen Habermas, | |
Ernest Mandel, Ernst Bloch und andere Größen der Zeit. | |
Hellers Erstlingswerk „Der Mensch in der Renaissance“ erschien noch 1967 in | |
Ungarn. Erst elf Jahre später folgte eine englische Übersetzung und gar | |
erst 1988 die deutsche. | |
Öffentliche Proteste gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings durch | |
Truppen – auch ungarische – des Warschauer Pakts im August 1968 hatten | |
bewirkt, dass Heller und andere Intellektuelle wieder verstärkt unter | |
Beobachtung des Regimes standen. Dem damit verbundenen Berufsverbot entzog | |
sich die Philosophin, als sie 1977 mit ihrem Mann einem Ruf nach Australien | |
folgte, wo sie an der La Trobe University in Melbourne eine Professur für | |
Soziologie bekam. 1986 wurde sie dann auf den Hannah-Arendt-Lehrstuhl an | |
der New School for Social Research in New York berufen. | |
In Hannah Arendt erkannte Heller „eine Freundin im Denken, weil auch sie | |
alle Ismen verabscheute, […] ihrer Fehlbarkeit bewusst war, weil sie | |
leidenschaftlich, aber nie zornig war und weil sie sich dazu aussprach, | |
sowohl zu handeln als auch etwas zu schaffen für die persönliche als auch | |
die politische Freiheit“. Arendts Philosophie sah Ágnes Heller als | |
„freundlich und einladend“. Und sie habe keine Angst gehabt, Fehler zu | |
machen. „Diese Aspekte“, so Verena Paul von der Stiftung Demokratie | |
Saarland vor knapp einem Jahr, „gelten nicht nur für Hannah Arendt, | |
sondern im gleichen Maße auch für Ágnes Heller.“ | |
Wenige Philosophen und Philosophinnen haben ihr eigenes Denken so sehr | |
infrage gestellt und immer wieder kritischer Reflexion unterzogen wie | |
Heller, die in ihrem 2017 erschienenen Buch „Eine kurze Geschichte meiner | |
Philosophie“ einen kritischen Blick auf ihr eigenes Denkgebäude wirft. | |
Dabei habe sie nicht alles verworfen, was sie vorher geschrieben hatte, | |
vielmehr „muss ich Teile durch andere Teile ersetzen, aber nicht das ganze | |
Gebäude niederreißen“. Sonst könne man „kein anderes Gebäude aufbauen�… | |
erklärte sie damals. | |
Die Jugend suche immer nach Antworten, aber sie habe den Versuch, | |
philosophische Fragen lösen zu wollen, vor 30 Jahren aufgegeben: „Ich kam | |
zur Konklusion, dass ich wichtige Probleme unserer Menschenrasse, wenn ich | |
so sagen darf, unserer menschlichen Geschichte, nur aufwerfen kann, aber | |
nicht lösen.“ Vermeintliche Antworten seien immer nur in ihrer Zeit gültig, | |
aber mit der Zeit verändere sich alles. | |
In der Folge des Mauerfalls kehrte Heller nach Ungarn zurück, behielt aber | |
ihren Zweitwohnsitz in New York. Ideologisch ordnete sie sich inzwischen | |
als liberale Demokratin ein. Als Heller 2012 den Carl-von-Ossietzky-Preis | |
verliehen bekam, schrieb die Jury in ihrer Begründung, sie erhalte den | |
Preis „aufgrund ihrer Furchtlosigkeit“. So musste Heller bei Orbán, der | |
die Einschränkung der Freiheitsrechte mit einer Kampagne gegen die | |
Philosophen anfing, in Konflikt geraten. Die Anfeindungen, denen sie | |
zuletzt ausgesetzt war, nahmen auch immer wieder antisemitischen Charakter | |
an. Orbáns Büttel verfolgten sie mit Rufmordkampagnen. | |
Im Interview mit der taz sprach Heller schon vor fünf Jahren von | |
„fundamentalistisch-nationalistischer“ Politik. Orbáns Standpunkt sei: „… | |
sich nicht mit unserer Politik identifiziert, ist kein echter Ungar, der | |
ist ein Verräter.“ | |
Heller hielt sich für ihre anstrengende Vortrags- und Reisetätigkeit | |
körperlich fit, indem sie täglich im Pool im Keller ihres Hauses ihre | |
Runden zog. Am 14. August sollte sie im Tiroler Bergdorf Alpbach das | |
Europäische Forum zum Thema „Freiheit und Sicherheit“ eröffnen. Davor | |
erholte sie sich in einem Ferienhaus der Ungarischen Akademie der | |
Wissenschaften am Plattensee. Am 19. Juli schwamm die 90-Jährige auf den | |
See hinaus und kam nicht mehr zurück. | |
21 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Ralf Leonhard | |
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