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# taz.de -- Hannah Arendt-Preis 2011: Arabischer Frühling in Bremen
> Navid Kermani empfiehlt Europa beim Preisträger-Kolloquium Integration
> nach amerikanischem Vorbild zu denken - und endlich die
> Diktatoren-Beihilfe zu beenden.
Bild: Navid Kermani bei der Verleihung des Hannah Arendt-Preises.
Buttersüßer Croissant-Duft in der Nase, dazu Kaffee und für den Geist ein
gepflegtes Gespräch mit dem Hannah-Arendt-Preisträger. So wird der Morgen
nach dem Festakt im Institut Français gefeiert. Das anregende Lauschen galt
dieses Jahr Navid Kermani, einem deutschen, aus iranischer Familie
stammenden Orientalisten.
Er wurde 2009 über die Grenzen seines Fachgebietes hinaus bekannt, da er
die christliche Kreuzsymbolik und ihre Verehrung des Leidens provokativ als
"Gotteslästerung" deutete, und dann auf Intervention der katholischen
Kirche den Hessischen Kulturpreis aberkannt bekommen sollte. Inzwischen ist
er einer der gefragtesten Publizisten, wenn es um den Arabischen Frühling
geht, weil er Orient wie Okzident aus gleich kritischer Distanz beäugt.
Gesprächsanregend berichtete die Mitbegründerin des Arendt-Preises, Antonia
Grunenberg, sich dauernd selbst zu verdächtigen, "doch gar nicht kapieren
zu können, worum es überhaupt geht". Der als "europäischer
Sozialwissenschaftler" vorgestellte Dieter Senghaas ergriff daraufhin erst
einmal 25 Minuten das Wort.
Er behauptete, das sei alles sehr wohl zu verstehen. In den arabischen
Ländern wiederhole sich nämlich jetzt die europäische Geschichte des 19.
Jahrhunderts - hin zur Sozialstaatlichkeit als Abfederung des Kapitalismus.
"Demokratischen Sentimentalismus" nannte die österreichische Philosophin
Isolde Charim diese Parallelisierung der Historie. Navid Kermani pflichtete
bei. Der Islam sei zwar ungefähr 600 Jahre nach dem Christentum
durchgestartet, hole jetzt aber nicht einfach zeitverzögert dessen
Entwicklung nach.
Aber ganz so exotisch unverständlich seien die Umbruchsituationen wiederum
auch nicht. Man müsse sie nur begreifen wollen. In deutschen Medien und
Politikerreden stelle er hingegen immer wieder fest, dass vor allem Wissen
schon eine Meinung vorhanden sei.
Seine Auftragslage als Publizist sei so, dass er mehrere Kommentare täglich
schreiben könne, aber eine Reportage über das Leben beispielsweise im
heutigen Ägypten, dafür sei keine Neugier zu wecken. Im Übrigen sei er
"nicht so optimistisch", dass in den freiwillig sich islamisierenden
Ländern eine zivilisierte Entwicklung à la Europa stattfinde. Oder à la
Amerika.
Deren Unabhängigkeitsbewegung schätzt Kermani sehr. Und erläutert das in
seiner Preisträger-Rede am Begriff "Integration", der zeige, dass in Europa
"die Grundlage weiterhin die Vorstellung eines irgendwie einheitlichen
Staatsvolkes ist, für das ein Fremder sich zu qualifizieren, in das er sich
einzubringen hat". Ganz anders hätten die Väter der Amerikanischen
Revolution das Wort "Volk" nie als Singular, sondern als Vielheit
verstanden, "die es nicht kulturell zu vereinheitlichen, sondern
demokratisch zu organisieren galt." Leider erinnere die Situation im Nahen
Osten "heute mehr an 1789 als an 1776": Französische Revolution versus
Amerikanische Unabhängigkeitserklärung.
Wütend blickt der 44-jährige Wissenschaftler auf die ganz eigene Richtung
der Revolution im "Folterstaat" Iran. Angst mache ihm auch die Situation in
Ägypten. Triumphiert haben die Muslimbrüder, die Kermani während seiner
Studienzeit in Kairo als "sehr verbohrte Gesellen" kennengelernt hat. Aber
er plädierte dafür, ihrem Beispiel zu folgen. Sie hätten jahrelang die von
Mubarak vernachlässigte Sozialpolitik aktiv betrieben, Hilfe geleistet und
ihre religiöse Agenda mitgeliefert: Humanismus als Utilitarismus.
Warum, so Kermani, unterstütze der Westen nicht säkulare Parteien im
politischen Wettbewerb? Warum beeinflusse er Entwicklungen nicht, indem die
täglichen Bedürfnisse der Menschen ernst genommen und befriedigt würden.
"Wie Amerika den Deutschen nach dem Krieg nicht aus Mitleid eine
Perspektive geboten hat, so wäre es heute im wohlverstandenen
Eigeninteresse der europäischen Staaten, nie mehr in Diktaturen, sondern
endlich in Freiheit zu investieren", so Kermani in seinem Plädoyer im
Arendt'schen Sinne: pragmatisch sein, Kompromisse schließen, also
Islamisten entzaubern, damit sich der Islam politisch und nicht gewalttätig
artikuliere.
Moderatorin Grunenberg erläuterte Hannah Arendts Modell, nach dem der
Gründungsakt für das Projekt Freiheit immer ein Gewaltakt sei, dann müssten
Verfassung, Parteien fürs pluralistische Spiel der Meinungen und
schließlich der Obere Gerichtshof folgen. Das sei in den Ländern des
Arabischen Frühlings bisher nicht so. Deswegen herrschte schließlich
halbwegs Einigkeit auf dem Podium, als eine "offene Situation" im Nahen
Osten konstatiert wurde.
Alles sei möglich: neue Despotie, die alle Säkularisierungen erstickt, ein
aufgeklärter Absolutismus wie in Marokko oder demokratische
Mehrparteinsysteme. Einig war sich das Podium auch darin, dass Ängste vor
einem Pan-Islamismus unbegründet seien: Die Befreiungsbewegungen seien alle
eher nationalistisch orientiert.
4 Dec 2011
## AUTOREN
Jens Fischer
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