# taz.de -- Neuer Roman von Navid Kermani: Ichvergessen im Ornament | |
> In „Große Liebe“ lässt Navid Kermani eine Schulhofromanze und alte Myth… | |
> aufeinanderprallen. Der Roman mutiert zum Battle der Stereotypen | |
Bild: Zwei Liebende unter Sternenhimmel. Vielleicht Leila und Madschnun? | |
Ein dunkelroter Einband mit leuchtend roter Schrift: „Große Liebe“ steht da | |
in Großbuchstaben, zweimal. Ob das als Warnung zu verstehen ist? Gut | |
möglich. Es ist der neue Roman von Navid Kermani, und er dreht sich um die | |
ganz großen Gefühle eines noch flaumbärtigen Protagonisten. In Form von | |
Tagebüchern und Briefen werden die Emotionen aus einer alten Schachtel | |
herausgekramt, mühsam rekonstruiert und in einen tausend Jahre alten | |
Kontext anderer Liebender und Liebesdichter gestellt. | |
Sprachlich befinden wir uns, grob gesagt, irgendwo im vorigen Jahrtausend. | |
Den LeserInnen im Jahr 2014 verlangt das nicht nur ein besonderes Maß an | |
Geduld ab, sondern geschmacklich auch eine, sagen wir, besondere Neigung | |
zum Ornament. | |
Vordergründig geht es um die erste Liebesbeziehung des Erzählers, dem es im | |
zarten Alter von 15 Jahren gelungen war, die „Schönste des Schulhofs“ auf | |
sich aufmerksam zu machen. Die Schönste (ihr Name, Jutta, wird nur ein | |
einziges Mal genannt) war 19 und stand kurz vor dem Abitur, während ihr | |
heimlicher Verehrer und späterer Geliebter zu jung war, um in der | |
Raucherecke zu stehen. | |
Dreißig Jahre später erinnert sich der Erzähler an seine Eroberung – er | |
verbringt drei unvergessliche Nächte auf ihrem Matratzenlager unter | |
indischen Tüchern – und nimmt sich hundert Tage fürs Schreiben von jeweils | |
einem Kapitel, dessen Zahl auch immer die zugehörigen Seiten nummeriert. | |
## Projektionen des Orientalisten | |
Hintergründig ist diese Jugendliebe allerdings nur eine Projektionsfläche | |
für die von dem Orientalisten Kermani auch zu wissenschaftlichen Zwecken | |
untersuchten islamischen Liebesmystikern wie Ibn Arabi oder Baha-e Walad. | |
Die Zitate stammen aus dem 12. und 13. Jahrhundert und klingen teilweise | |
sehr hübsch, aber sind hier so inflationär eingestreut, dass man sich | |
zwangsläufig fragt, wie viel von diesen Erkenntnissen zum Thema Erotik und | |
Liebe für das Heute eigentlich neu oder gar relevant sein kann. | |
Immerhin aber taugen die Schriften der Mystiker, wie man durch Kermanis | |
expliziten Fokus auf die Stellen zu körperlicher Leidenschaft erfährt, zu | |
einer alternativen Lesart des Islams, die dem Regressionswahn der | |
Salafisten sehr entschieden widerspricht. | |
Doch häufen sich dann zusätzlich noch die Segmente, in denen die klassische | |
arabische Liebesgeschichte von Leila und Madschnun nacherzählt wird, die in | |
der orientalischen Literatur bereits bis zum Anschlag zitiert wurde, so | |
dass es Kermani nur ironisch meinen kann, wenn er als einer der | |
bekanntesten deutschen Orientalisten das Offensichtlichste serviert, das | |
von ihm erwartet werden kann. | |
## LSD und Gottes Liebe | |
Überhaupt zieht der Autor das ständige Vergleichen und Anführen von | |
Schriftquellen so exzessiv durch, dass die Erzählung jeden Moment in eine | |
Ansammlung von Kalendersprüchen zu mutieren droht und man am Ende gar nicht | |
mehr weiß, welche Ebene nun eigentlich dominiert. | |
Es ist wie ein Battle der Stereotype: auf der einen Seite die | |
ichvergessenen Mystiker, die auf zehntausend Arten und Weisen in der | |
überflutenden Liebe Gottes ertrinken und zu denen die Erzählstimme kaum auf | |
Distanz zu gehen wagt. | |
Auf der anderen Seite die westdeutsche Friedensbewegung der 80er Jahre samt | |
ihrer auf LSD trippenden Hausbesetzer und dem unbedingten Widerstand gegen | |
die spießige oder faschistische (damals galt das wohl als dasselbe) | |
Elterngeneration. Nicht, dass das nicht unterhaltsam wäre. Doch schmunzelt | |
man eben seltener über eine gelungene Überraschung, häufiger über die | |
tatsächliche Ausführung eines weiteren Klischees. | |
Gewiss doch muss Ironie dahinterstecken, wenn Kermani von dem „Feuerwerk an | |
Eindrücken“ bei der „ersten Vereinigung“ des jungen Paares spricht, bei … | |
er „Zuschauer und Sprengmeister“ zugleich war. Bemerkenswerter aber ist die | |
im Verlauf der Geschichte überhand nehmende Ebene, die vom tristen Alltag | |
des Erzählers im Jetzt berichtet. Der Mittvierziger hat soeben seine Ehe | |
ruiniert und kämpft um die Aufmerksamkeit des Sohns, der ebenfalls 15 ist – | |
und offenbar der Grund für das Schwelgen in Erinnerungen an die eigene | |
Jugend. | |
## Realität des Spießertums | |
Es ist der rettende Moment für den Roman, als der Vater in der Nacht | |
aufbleibt, um dem Sohn, der am nächsten Tag Geburtstag hat, heimlich einen | |
Schokoladenkuchen zu backen. Am Morgen, der Frühstückstisch ist gedeckt mit | |
Müsli und Co., zieht der Junge mürrisch davon, weil er mit Freunden bei | |
Starbucks verabredet ist. Der Vater brüllt, aus Hilflosigkeit. | |
Und da ist es dann auch endlich, wenn auch nur wenige Sätze lang: die | |
Realität des eigenen Spießertums und der gescheiterten Existenz als Motiv | |
für die Flucht in alte Mythen und Erinnerungen an die allererste große | |
Liebe. Dabei hielt sie nur eine Woche. | |
16 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
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