| # taz.de -- Navid Kermanis Rede beim Friedenspreis: Den Islam lieben und mit ih… | |
| > Navid Kermani hat den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in | |
| > Frankfurt erhalten. Er ruft zu religiöser Toleranz auf – und zum Gebet. | |
| Bild: Navid Kermani in der Frankfurter Paulskirche, wo er seine Rede zum Friede… | |
| Alle erheben sich in dem weiten, hohen Innenraum der Frankfurter | |
| Paulskirche. Sie erheben sich keineswegs zum Applaus, sondern um zu beten | |
| oder, bei areligiösen Menschen (wie mir), sich die Freilassung von Christen | |
| zu wünschen, die im syrischen Staatsgebiet vom Islamischen Staat entführt | |
| worden sind. Ein heikler Moment, und er gelingt so würdevoll, dass man | |
| glatt vergessen konnte, wie sehr er ins Kitschige oder Pathetische hätte | |
| abrutschen können. | |
| Und er gelingt deshalb, weil Navid Kermani es in dieser Rede zum | |
| Friedenspreis schafft, die Komplexität dieses Momentes so deutlich | |
| aufscheinen zu lassen. Es ist wirklich ein geradezu multikultureller | |
| Moment. Ein „verwestlichter Muslim“ (Kermani über sich selbst) ruft am | |
| Symbolort der deutschen Republik zum Gebet auf – für eine christliche | |
| Glaubensgemeinschaft, um die Pater Jacques Mourad und Paolo Dall’Oglio,die | |
| in Syrien islamische Motive in ihre katholische Glaubenspraxis eingebaut | |
| und das Assad-Regime mutig kritisiert haben. | |
| Und er ruft in großem Respekt Nichtgläubigen gegenüber dazu auf. | |
| Nichtreligiöse Menschen können „mit ihren Wünschen“ bei den Entführten | |
| sein, regt er an: „Ich glaube an Wünsche und dass sie mit oder ohne Gott in | |
| unserer Welt wirken. Ohne Wünsche hätte die Menschheit keinen der Steine | |
| auf den anderen gelegt, die sie in Kriegen so leichtfertig zertrümmert.“ | |
| Navid Kermani selbst betete ein, zwei Minuten mit offenen Armen am | |
| Rednerpult. Dass er mit dieser Rede ein Zeichen setzen wollte, hatte man | |
| sich gedacht. Aber er hat etwas Gewagteres getan, als nur für einen guten | |
| Umgang mit Flüchtlingen zu werben oder für politische Maßnahmen angesichts | |
| der Krisenherde dieser Welt. Er hat es riskiert, sich lächerlich zu machen | |
| oder der Vermessenheit geziehen zu werden. | |
| ## Das Eigene und das Fremde | |
| Und es ist ihm gelungen, diese Preisverleihung zu einer Demonstration gegen | |
| jegliche religiöse Intoleranz zu machen. Aus der Feierstunde machte er ein | |
| Beispiel gelebter menschlicher Solidarität. Angesichts der verhärteten | |
| Debatten um das Eigene und das Fremde ist das ein Glücksfall. | |
| Navid Kermani ist ein großartiger Redner. Er hat ein sicheres Gespür für | |
| einen guten Auftritt; bei dieser Friedenspreisverleihung, die doch so etwas | |
| wie die ultimative Ehrung eines Werkes ist, bleibt er als Person ganz | |
| zurückgenommen. Ihm sind effektvolle rhetorische Verdichtungen gegeben, | |
| aber er stellt sie ganz in den Dienst der Sache. Diese Fähigkeiten als | |
| Redner hat er bereits in seiner Rede zur Feierstunde des 65. Jubiläums des | |
| Grundgesetzes bewiesen. | |
| Wenn man diese Rede mit der Friedenspreisrede vergleicht, kann man sehen: | |
| Es gibt eine interessante Verknüpfung von Kermanis Grundsätzen aus der | |
| Orientalistik und seinem westlichen Verfassungspatriotismus. Und zwar läuft | |
| sie über seinen Sinn für eine gute, schöne Sprache, was zuerst harmlos | |
| klingt, aber schnell politische Implikationen entwickelt. Die Verknüpfung | |
| liegt darin, dass er an die zivilisierende Kraft gelungener, schöner Sätze | |
| nicht nur in einem theologischen, sondern auch in einem politischen Sinn | |
| glaubt. Das macht ihn offen auch für säkulare Überlegungen. | |
| In der Grundgesetzrede erinnerte Kermani an die Schlichtheit solcher Sätze | |
| wie „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ oder „Alle Menschen sind vor | |
| dem Gesetz gleich“. Von diesem Glauben an gute, schöne Sätze landete er | |
| einen rhetorischen Punch, indem er an den „wundervoll bündigen“ Satz | |
| erinnerte, in dem ursprünglich das Asylrecht in Deutschland gefasst war: | |
| „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. | |
| ## „Unter Berufung auf den Islam werden Frauen gesteinigt“ | |
| Klarer lässt sich das tatsächlich kaum sagen. Dann aber spielte Kermani auf | |
| die 275 Wörter lange, gewundene, verschachtelte Verordnung hin, in der das | |
| 1993 geänderte Asylrecht verfasst wurde – „nur um“, so Kermani, „eines… | |
| verbergen: dass Deutschland das Asyl als Grundrecht praktisch abgeschafft | |
| hat“. | |
| Die politische Instrumentalisierung der Sprache, kann man anfügen, äußert | |
| sich darin, dass sie unschön wird. So wie sich, wenn man nun zur | |
| Friedenspreisrede hinüberspringt, die Barbarei des Islamischen Staats an | |
| den Massakern äußert, die er an der Sprache und überhaupt an der kulturell | |
| reichen Tradition des Islams verübt. | |
| Die entführte christliche Gemeinschaft steht am Anfang und am Ende dieser | |
| Rede. In ihrem Zentrum steht eine von Kermani mit aller Härte vorgetragene | |
| Selbstkritik des Islams. Mit großem Furor rechnet er damit ab, im Namen des | |
| Islams weltweit Diktaturen zu legitimieren und Menschen zu drangsalieren. | |
| „Unter Berufung auf den Islam werden in Afghanistan Frauen gesteinigt, in | |
| Pakistan ganze Schulklassen ermordet, in Nigeria Hunderte Mädchen | |
| versklavt, in Libyen Christen geköpft, in Bangladesch Blogger erschossen, | |
| in Somalia Bomben auf Marktplätzen gezündet, in Mali Sufis und Musiker | |
| umgebracht, in Saudi-Arabien Regimekritiker gekreuzigt“ – dass er den | |
| gegenwärtigen Islam pauschal in Schutz nehmen würde, wollte sich Kermani | |
| wahrlich nicht nachsagen lassen. | |
| ## Was tun? | |
| Nur deutet er diese aktuellen Erscheinungsformen allerdings keineswegs als | |
| Renaissance islamischen Denkens, sondern als eine Verfallsform und vor | |
| allem eine Abwendung von der reichen islamischen Tradition, die sich vor | |
| allem in einer Missachtung seiner vielfältigen und zum Teil sogar auf | |
| Multikulturalismus angelegten Kultur zeigt. Kermani: „Oft ist zu lesen, | |
| dass der Islam durch das Feuer der Aufklärung gehen oder die Moderne sich | |
| gegen die Tradition durchsetzen müsse. Aber das ist vielleicht etwas zu | |
| einfach gedacht, wenn die Vergangenheit des Islams so viel aufklärerischer | |
| war […] Vielleicht ist das Problem des Islams weniger die Tradition als | |
| vielmehr der fast schon vollständige Bruch mit dieser Tradition, der | |
| Verlust des kulturellen Gedächtnisses, seine zivilisatorische Amnesie.“ | |
| An einer anderen Stelle der Rede hielten die Zuhörerinnen und Zuhörer in | |
| der Paulskirche geradezu den Atem an. Nachdem er die Missstände in Syrien | |
| klar benannt hatte, stellte Kermani die große politische Frage: Was tun? | |
| Und er fragte ganz ernsthaft: „Darf ein Friedenspreisträger zum Krieg | |
| aufrufen?“ Kurze rhetorische Pause. Dann löste er auf: „Ich rufe nicht zum | |
| Krieg auf. Ich weise lediglich darauf hin, dass es einen Krieg gibt – und | |
| dass auch wir, als seine nächsten Nachbarn, uns dazu verhalten müssen, | |
| womöglich militärisch, ja, aber vor allem sehr viel entschlossener | |
| diplomatisch und ebenso zivilgesellschaftlich.“ Den größten Fehler, so | |
| Kermani, begehen wir, wenn wir nichts vor dem Massenmord vor unserer | |
| europäischen Haustür tun. | |
| So bewegend die Rahmenerzählung um die entführte christliche Gemeinschaft | |
| ist und so deutlich und ernst sie politische Probleme ansprach, ihre | |
| eigentliche Sprengkraft entwickelt diese Friedenspreisrede gerade in ihrer | |
| Form einer von einem muslimischen Standpunkt vorgetragenen muslimischen | |
| Selbstkritik. | |
| ## Selbstliebe bedeutet auch Selbstkritik | |
| Für die Notwendigkeit dieser Selbstkritik fand Kermani zugespitzte | |
| Formulierungen: „Die Liebe zum Eigenen – zur eigenen Kultur wie zum eigenen | |
| Land und genauso zur eigenen Person – erweist sich in der Selbstkritik“, | |
| sagte er. Schwärmerisch lieben könne man nur den anderen. „Die Selbstliebe | |
| hingegen muss, damit sie nicht der Gefahr des Narzissmus, des Selbstlobs, | |
| der Selbstgefälligkeit unterliegt, eine hadernde, zweifelnde, stets | |
| fragende sein. Wie sehr gilt das für den Islam heute! Wer als Muslim nicht | |
| mit ihm hadert, nicht an ihm zweifelt, nicht ihn kritisch befragt, der | |
| liebt den Islam nicht.“ | |
| Genau an diesem Punkt gewinnt diese Rede endgültig Größe. Sie war bewegend | |
| in ihren erzählenden Abschnitten, hoch politisch in ihren Analysen | |
| fundamentalistischer Herausforderungen – und vor allem ließ sie, eben in | |
| ihrer Wucht der Selbstkritik, die aktuell gängigen kulturellen | |
| Frontstellungen zwischen Christentum, säkularer Liberalität und Islam | |
| hinter sich. | |
| Wer die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem aufheben will, der muss die | |
| Traditionen und die Erscheinungsformen der eigenen Kultur nicht nur | |
| darstellen, sondern auch kritisieren können. Navid Kermani hat ein | |
| großartiges Beispiel dafür gegeben, wie tief man dabei vorgehen kann. | |
| 18 Oct 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Dirk Knipphals | |
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