# taz.de -- Literaturaustausch: Verstehen, wo man nicht versteht | |
> Der "Westöstliche Diwan" vermittelt den Austausch von deutschen und | |
> arabischen Schriftstellern. Über eine Begegnung, die zeigt: Es treffen | |
> sich Individuen - nicht Kulturen. | |
Bild: Gesprächshürde: Holocaust-Überlebender Imre Kertész freut sich über … | |
Die vielleicht ergreifendste Begegnung war eine, die wir nicht geplant | |
hatten. Der libanesische Dichter Abbas Beydoun war für einige Monate zu | |
Gast am Berliner Wissenschaftskolleg, um gemeinsam mit dem Schriftsteller | |
Michael Kleeberg die Stadt zu erkunden, so wie zuvor Beydoun Kleeberg in | |
Beirut eingeführt hatte. Die literarischen Zeugnisse ihres Austausches sind | |
beeindruckend und zahlreich. Zu Beydoun und Kleeberg ist zu sagen, dass sie | |
sich für einen Dialog beinah zu gut verstanden haben. Die Veranstaltungen | |
verliefen bisweilen kurios. | |
Auf der Lesung im Kölner Literaturhaus etwa, die ich moderierte, lobten | |
sich die beiden so wortreich und vehement, dass ich kaum noch dazwischenkam | |
mit meinen Fragen. Für die Zuschauer war es durchaus interessant zu | |
erfahren, was für fantastische Menschen und großartige Autoren mon cher | |
Abbas und mon cher Michael sind, in welch faszinierenden Städten sie leben, | |
wie viel sie voneinander gelernt haben - aber wir hätten auch gern von | |
Reibungspunkten erfahren, von Ratlosigkeiten, Missverständnissen, von den | |
Konflikten in ihrer Literatur und ihren Gesellschaften. Nichts davon konnte | |
ich als Moderator den Zuschauern auftun. Ich war machtlos gegen ihre | |
Harmonie. | |
Ein Misserfolg war der Abend deswegen nicht und schon gar nicht ihre | |
Begegnung. Abgesehen vom Unterhaltungswert - Beydoun und Kleeberg | |
zelebrierten ihre Freundschaft auf durchaus selbstironische Weise -, | |
führten sie auch vor, wie wenig kulturelle, religiöse oder nationale | |
Grenzen bedeuten können, sobald sich Individuen gegenüberstehen. Ein | |
frankophoner Berliner Schriftsteller kann mit einem frankophonen Beiruter | |
Dichter viel mehr teilen als mit seinem Nachbarn in Charlottenburg oder dem | |
Kollegen aus Mitte, und zwar nicht nur die Sympathie, sondern auch den | |
literarischen Kanon, den musikalischen Geschmack, das ästhetische Urteil, | |
die humanistischen Werte. | |
In Berlin lernte Abbas Beydoun aber noch ein weiteren Schriftsteller | |
kennen, den Ungarn Imre Kertész, ebenfalls Gast des Wissenschaftskollegs. | |
Morgens sahen sie sich beim Frühstück, mittags beim Mittagessen, kaum mehr. | |
Obwohl Beydoun sich geradezu rührend bemühte, schien Kertész nicht | |
sonderlich interessiert zu sein, mit dem Dichter aus dem Libanon ins | |
Gespräch zu kommen, schon gar nicht, nachdem ihn die Nachricht vom | |
Nobelpreis aus der Beschaulichkeit des Wissenschaftskollegs in die | |
Weltöffentlichkeit katapultiert hatte und er einen Modus finden musste, | |
sich von den vielen Journalisten und den plötzlichen Freunden abzuschirmen, | |
die ihn von einem auf den anderen Tag bestürmten. Weil er zu der Zeit - es | |
war der Beginn der israelischen Militäroffensive im Westjordanland und im | |
Gaza-Streifen - in einem der Interviews auch noch von dem Glücksgefühl | |
geschwärmt hatte, dass ihn, den jüdischen Überlebenden des | |
Konzentrationslagers, beim Anblick des Davidsterns auf einem Panzer | |
überkomme, wäre der Fall für einen arabischen Intellektuellen eigentlich | |
klar gewesen, zumal für einen Schiiten aus dem libanesischen Süden, dessen | |
Dorf jahrelang unter israelischer Besatzung stand: ein Friedensfeind, | |
arrogant im Umgang, extremistisch in seinen Ansichten. | |
Naheliegend wäre es gewesen, hätte Beydoun in den Chor der arabischen | |
Presse eingestimmt, der die Vergabe des Nobelpreises als politisch | |
motivierten Akt der Unterstützung Israels abtat. Aber er konnte er das | |
nicht. Beydoun hatte mit Kleeberg auf dem Bahngleis 17 des nahegelegenen | |
Bahnhofs Grunewald gestanden, von dem aus die Juden der Stadt nach | |
Auschwitz-Birkenau und Theresienstadt abtransportiert worden sind. Sie | |
hatten die Mahnmäler des jüdischen Berlins besucht und sich ausführlich mit | |
der Geschichte des Antisemitismus beschäftigt. Vor allem aber las Beydoun | |
die Bücher seines Kollegnachbarn Imre Kertész, soweit sie auf Französisch | |
vorlagen, so den "Roman eines Schicksallosen", in den die Erfahrungen des | |
ungarischen Juden im Konzentrationslager eingegangen sind. Sie hatten ihn | |
so tief beeindruckt, dass er einen langen Artikel für eine libanesische | |
Zeitung schrieb, in dem er als erster arabischer Intellektueller das Werk | |
Kertész würdigte und die Entscheidung des Nobelpreiskomitees verteidigte. | |
Freundschaft haben Kertész und Beydoun dennoch nicht geschlossen. Zwar | |
gelang es Beydoun schließlich, Kertész ein einziges Mal in ein Gespräch zu | |
verwickeln, doch blieb der Ungar bei aller Freundlichkeit, die er dann doch | |
noch an den Tag legte, distanziert. Beydoun seinerseits blieb irritiert. | |
Dass Kertész ein großartiger Autor ist, war für ihn klar von Anfang an. | |
Aber das war noch nicht alles. Wer so differenziert schreibt, dachte | |
Beydoun, der kann nicht so einseitig urteilen, wie es die Interviews zum | |
Nahostkonflikt nahelegten. Wer so menschenfreundlich sei in seinen Romanen, | |
müsse nicht nur ein begnadeter Autor, sondern ein großer Humanist sein. Wie | |
könne er dann frohlocken beim Anblick der Panzer, die in Ramallah | |
einziehen? Beydoun konnte nicht auflösen, was ihm als Widerspruch erschien, | |
den Widerspruch zwischen der Person, die sich der Annäherung verweigerte, | |
und dem Werk, das in jeder Zeile zu ihm sprach. Kertész enthielt sich eines | |
Winks und verzichtete im weiteren Verlauf des Jahres auch darauf, den | |
Eindruck zu verwischen, den Arabern insgesamt mit, nun ja, einer gewissen | |
Skepsis zu begegnen. | |
Beydoun schrieb für As-Safir einen zweiten, noch wesentlich längeren Essay, | |
in dem er über die Monate mit Kertész am Berliner Wissenschaftskolleg | |
nachdachte. Es ist eine Liebeserklärung und zugleich das Protokoll eines | |
Gespräches, das stattfand, ohne zu gelingen. Kertész bemühte sich zwar, | |
seine eigene Haltung zu erläutern, so gut es ging, und versicherte, für den | |
Frieden zwischen Arabern und Juden einzutreten. Neugierig auf Beydoun war | |
er jedoch nicht. Anders, als wir es von Kertész kannten, gab er Beydoun | |
Antwort, ohne selbst nachzufragen. | |
Weder Beydoun noch Kertész haben ihre politischen Ansichten geändert. Sie | |
haben nicht öffentlichkeitswirksam Frieden geschlossen, wie es sich | |
europäische Dialogstifter gern wünschen (allein schon deshalb, weil sie | |
niemals Krieg geführt hatten). Aber Beydoun und vielleicht auch Kertész, | |
den der Essay des Libanesen später in einer freilich unzureichenden | |
Übersetzung erreichte, haben eine Welt, die ihren Gesellschaften als | |
feindlich gilt, mit neuen Augen gesehen, durch die Augen der Literatur. Sie | |
haben sich verstanden und verstanden, wo sie sich nicht verstehen. | |
Weshalb erzähle ich unter all den Episoden, die sich im Verlaufe des | |
Projektes Westöstlicher Diwan ereigneten, ausgerechnet von dieser | |
Begegnung, die keinen der beiden Beteiligten "befriedigte"? Zum einen | |
sicher deshalb, um anzudeuten, dass die Wirkungen eines solchen | |
Austauschprogramms über die hinausgehen, die die Initiatoren vorhersahen | |
und die sich in den Presseartikeln und literarischen Zeugnissen nachlesen | |
lassen (und die wichtigste Wirkung wären die Bücher, die noch lange nach | |
den Reisen neu oder anders geschrieben werden). Beydoun hätte Berlin sicher | |
auch zu einem anderen Zeitpunkt besuchen, Kertész bei einer anderen | |
Gelegenheit kennenlernen können. Doch ohne den spezifischen Kontext des | |
Projekts, den langen Aufenthalt in Deutschland, die Gespräche mit Michael | |
Kleeberg und den anderen Freunden in Berlin, die ihm das Werk des | |
Nobelpreisträgers ans Herz legten und seinen Blickwinkel auf den | |
Nahostkonflikt erläuterten, hätte Beydoun kaum eine solche Hartnäckigkeit | |
an den Tag gelegt, Kertész kennenlernen zu wollen - und wäre ein | |
bedeutender und aufsehenerregender Text der arabischen Aneignung | |
jüdisch-europäischer Literatur nicht geschrieben worden. | |
Ich erzähle von Beydoun und Kertész aber auch, um daran zu erinnern, dass | |
das Wort "Dialog", bezogen auf die Literatur, nicht nur oder, genau | |
genommen, erst zuletzt das Zusammentreffen von Dichtern auf einem Podium | |
meint, sondern zunächst die Lektüre und Reflexion von Texten, im besten | |
Fall außerdem das Gespräch unter der Arbeitslampe. Schriftsteller sind | |
keine Stellvertreter ihrer Kultur. Der Beiruter Abbas Beydoun und der | |
Berliner Michael Kleeberg mögen sich auf Anhieb nahe gewesen sein wie alte | |
Freunde - über das Verhältnis der Deutschen zu den Arabern, der Europäer zu | |
den Arabern, der Westler zu den Orientalen sagt das genauso wenig und | |
genauso viel aus wie die Dissonanzen zwischen dem Beiruter Rashid Daif und | |
dem Berliner Joachim Helfer, die sie in ihren Texten offenlegten | |
(veröffentlicht in dem stark beachteten Band "Die Verschwulung der Welt"). | |
Im Westöstlichen Diwan haben sich nicht Kulturen getroffen, sondern | |
Individuen. Beydoun, der keinen Zugang fand zu dem Menschen Kertész, hat | |
mit dessen Werken korrespondiert wie nur wenige Leser. Korrespondieren | |
heißt nicht: übereinstimmen. Es heißt, sich auseinanderzusetzen. Und so ist | |
auch das Wort "Dialog" keineswegs das Gegenteil von "Konflikt", sondern der | |
wechselseitigen Sprachlosigkeit. Wo Letztere benannt wird, auch dort | |
beginnt Literatur. | |
Der Autor Navid Kermani ist Mitorganisator des Programmes Westöstlicher | |
Diwan | |
4 Aug 2007 | |
## AUTOREN | |
Navid Kermani | |
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