# taz.de -- Reisen durch den Krisengürtel: Von Kaschmir bis nach Syrien | |
> Selbstkritik und Bescheidenheit zeichnen Navid Kermanis Reisebericht | |
> „Ausnahmezustand“ aus. Eine Abwechslung zu Autoren wie Todenhöfer oder | |
> Scholl-Latour. | |
Bild: Kermani öffnet die Tore zu den Lebenswelten der Menschen: Schaulustige K… | |
Eigentlich ist es zum Scheitern verurteilt: ein Buch über, wie es im | |
Klappentext heißt, den Krisengürtel, der sich vom indischen Kaschmir bis in | |
die arabische Welt erstreckt. Über eine Region, die für einen Reisebericht | |
nicht nur außerordentlich groß erscheint, sondern auch in einem solch | |
rasanten Wandel begriffen ist, dass jedes Buch bei Erscheinen bereits | |
veraltet ist. | |
Doch Aktualität beansprucht Navid Kermanis „Ausnahmezustand – Reisen in | |
eine beunruhigte Welt“ auch gar nicht. Die Recherchen für die zehn | |
Reportagen, die in kürzerer Fassung bereits in deutschen Zeitungen | |
erschienen sind, liegen schon Jahre zurück. 2005 reiste Kermani nach | |
Palästina, 2006 nach Afghanistan, 2009 war er in Iran. | |
Ein Problem ist das nicht. Denn der Kölner Buchautor und | |
Islamwissenschaftler macht nicht dort Halt, wo Tageszeitungen zu berichten | |
aufhören, sondern blickt über Palästina und Syrien hinaus – in die von | |
Indien und Pakistan beanspruchte Krisenregion Kaschmir zum Beispiel, die | |
hierzulande vollends vergessen zu sein scheint. | |
Die Teilung des indischen Subkontinents, schreibt Kermani, habe viele | |
Wunden gerissen, doch Kaschmir sei die eine, die sich nie zu schließen | |
scheine. Der Schriftsteller hat sich auf dem Hausboot eines Kaschmiris | |
eingemietet, das er sich mit indischen Touristen aus Kalkutta teilt. | |
Jahrelang hatten Auseinandersetzungen zwischen muslimischen Kaschmiris und | |
den als Besatzungsmacht empfundenen Indern Touristen abgeschreckt. | |
Eindrucksvoll gelingt es Kermani, den Kaschmirkonflikt auf sein Leben auf | |
dem Hausboot herunterzubrechen. Der Bootsherr und die Touristen hätten sich | |
kaum mehr als die Essenszeiten zu sagen. Zwischen den Gästen aus Kalkutta | |
und den Gastgebern, schreibt Kermani, „bin ich beinah so etwas wie eine | |
Schaltstelle, versuche mal für den einen, mal für den anderen Standpunkt | |
Verständnis zu wecken“. | |
## Normalität in Damaskus | |
Statt sich in politischen Erläuterungen zu verlieren, wählt Kermani | |
Alltagsszenen wie diese, zieht den zwischenmenschlichen Kontakt dem | |
angelesenen Wissen vor. Mal lässt er sich von einer Sufi-Anhängerin über | |
islamische Mystik in Pakistan aufklären, mal lauscht er der | |
Lebensgeschichte eines Miniaturmalers in Afghanistan oder den Ausführungen | |
eines indischen Hindu-Nationalisten. | |
Die aktuellste der zehn Reportagen kommt aus Syrien, das Kermani im | |
September 2012 bereiste. Der erste Eindruck von Damaskus sei eine „schon | |
schwindelerregende Normalität“. Längst habe man sich an die vielen | |
Checkpoints und den Sound der Mörsergranaten gewöhnt, sitze in Cafés oder | |
vertreibe sich die Zeit in den Shopping-Malls. Das ist ein schöner Kontrast | |
zu den düsteren Berichten aus Syrien, die von nichts als Leid und | |
Zerstörung erzählen wollen. | |
Doch schönreden will Kermani den Krieg nicht. Seine Eindrücke aus einer von | |
Regierungsmilizen gestürmten Intensivstation der Rebellen sind vielmehr so | |
verstörend, dass er in seinem eigenen Text die Frage nach der | |
journalistischen Ethik aufwirft. Ist es Reporterpflicht oder | |
Katastrophismus, wenn ein Berichterstatter das Grauen in allen Details | |
beschreibt, womöglich noch mit der Kamera auf die Opfer oder deren | |
Überreste zielt? | |
## Kritisch gegenüber dem ausländischen Reporter | |
„Dass ich überhaupt davon schreibe“, reflektiert Kermani seinen Bericht | |
über das Massaker, „mag dadurch gerechtfertigt sein, dass | |
Menschenrechtsorganisationen zahlreiche Berichte über beschossene, | |
gestürmte, angezündete Krankenhäuser gesammelt haben, auch über Patienten, | |
die im Krankenbett erschossen wurden.“ | |
Das mag eine Ausrede sein. Natürlich hätte Kermani seinen Bericht auch auf | |
direktem Weg an die Menschenrechtler schicken können. Dennoch zeugen | |
Passagen wie diese von Kermanis Bereitschaft, seine eigene Position, die | |
des ausländischen Berichterstatters, kritisch zu hinterfragen. | |
Ohnehin sind Kermanis Texte von einer Bescheidenheit geprägt, die sein Buch | |
„Ausnahmezustand“ von den Reiseberichten eines Jürgen Todenhöfers oder | |
Peter Scholl-Latours unterscheidet. Kermani hat einen feinen Sinn dafür, | |
den Menschen und ihren Lebenswelten, deren Tore er für seine Leser ein | |
Stück weit zu öffnen versucht, mit Respekt zu begegnen. Es ist ein | |
Reporterstil, der das Zwischenmenschliche zutage fördert. Aktualität | |
scheint in diesem Fall zweitrangig. | |
1 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Jannis Hagmann | |
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