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# taz.de -- Marxismus und Digitalisierung: Die automatische Revolution
> Streng nach Marx stünde das kapitalistische System im aktuellen digitalen
> Zeitalter kurz vor dem Zusammenbruch. Stimmt das?
Bild: Amazon-Mitarbeiter in Pforzheim – werden sie bald durch Maschinen erset…
„Das Kapital“ wird dieses Jahr 150 Jahre alt. Allerdings sieht der
Kapitalismus heute fundamental anders aus als zu Marx’ Zeiten: Industrie
4.0 und Digitalisierung bestimmen die Gegenwart. Das Internet ist zur
Schlüsseltechnik dieser Entwicklung geworden. Ist die Marx’sche Analyse im
digitalen Zeitalter noch nützlich – oder hat der digitale Kapitalismus sie
überholt?
Plattformen wie das Online-Taxiunternehmen Uber oder der Bringdienst
Deliveroo verkaufen selbst keine Waren, sondern verbinden und vermitteln.
Sie verkaufen Zugang. Auch bei den Internetriesen Google, Amazon oder
Facebook erfolgt die Wertschöpfung ohne klare Übertragung von
Eigentumsrechten; die Grenzen zwischen Produzent_innen und Konsument_innen
lösen sich in kollaborativen Produktions- und Konsumtionsprozessen auf.
Wenn ich bei Facebook oder Twitter etwas teile, wird dies verwertet. Ohne
eigentliche Arbeit macht das Unternehmen – durch Werbung – Profit. Konkret
produziert wird nichts, verdient dafür aber so einiges.
Der digitale Kapitalismus, so die Annahme, basiert vorrangig auf
Kreativität und Know-how: Selbstlernende Maschinen übernehmen die
Produktion, Wissen ersetzt körperliche Arbeit. Immer mehr Waren können in
immer weniger Zeit von immer weniger Menschen produziert werden. Damit
einher geht die Angst von Beschäftigten, ihren Job zu verlieren, durch
einen Algorithmus oder eine Maschine ersetzt zu werden. Wenn man alldem
Glauben schenkt, befinden wir uns in einer weiteren industriellen
Revolution: der Revolution 4.0.
Bei solch fundamentalen Veränderungen lohnt es sich, grundsätzlich zu
werden. Bei Marx selbst findet sich Material, das dabei helfen kann, die
digitalen Technologien und die Digitalisierung der Arbeitswelt besser
verstehen zu können. Denn nicht nur Marx’ allgemeine Betrachtungen der
kapitalistischen Logik verdienen Aufmerksamkeit, sondern auch seine
expliziten Gedanken zur Rolle von Wissen und Technik. Das
„Maschinenfragment“ aus den „Grundrissen“ bietet hier reichhaltiges
Material.
## Das Kapital schafft sich selbst ab
Das Konkurrenzprinzip zwingt Unternehmer ständig dazu, besser zu sein als
andere, zu investieren und fehlerhafte Menschen durch scheinbar fehlerlose
Maschinen, Algorithmen zu ersetzen. In diesem Prozess nimmt der Anteil der
konkreten lebendigen Arbeitskraft im Produktionsprozess immer weiter ab.
Der Anteil der Maschinen steigt. Für die Entwicklung und den Einsatz von
Technologie ist zunehmend Wissen notwendig. Wissen wird Voraussetzung und
zum dominierenden Bestandteil der Produktion: Algorithmen produzieren
scheinbar selbstständig, Informationen werden zu Ware, Daten zur Währung.
Im „Maschinenfragment“ spielt Marx nun diese Entwicklung wie ein
Mathematiker durch, der eine Kurve gegen null gehen lässt. Was passiert,
wenn lebendige Arbeitskraft immer weiter abnimmt und der Anteil des Wissens
und der Maschinen immer weiter zunimmt? Die Annäherung an den Nullpunkt
wäre die komplett automatisierte Welt mit einem verbliebenen Superroboter,
der nur noch einen Arbeiter braucht, der den An-und-Aus-Knopf bedient.
Der Kapitalismus stünde vor einem fundamentalen Problem; ihm ginge der
Nährboden aus. Es gäbe niemanden mehr, den das Kapital ausbeuten könnte.
Profit schaffen in der Marx’schen Terminologie Maschinen aber nur in
Verbindung mit der menschlichen Arbeitskraft. Ebenso gäbe es in diesem
Szenario keine Konsument_innen mehr, die sich die Waren leisten könnten.
Wenn nun die auf menschlicher Arbeitskraft beruhende Form der Produktion
aufhört, bricht dieses System, wie Marx selbst sagt, zusammen. Das Kapital
schafft sich selbst ab.
## Nur eine Fiktion?
An diese Gedanken schließt Paul Mason in seinem vieldiskutierten Buch
„Postkapitalismus“ an. Für Mason ist das Szenario des Maschinenfragments
bereits Realität. „Der Kapitalismus ist ein komplexes System, das an die
Grenzen seiner Anpassungsfähigkeit gestoßen ist“, schreibt er. Der
Kapitalismus stehe kurz vor seinem Untergang: Informationen und Netzwerke
stehen allen frei zur Verfügung. Es gibt keine Knappheit an ihnen, was es
für den freien Markt unmöglich macht, Preise festzulegen. Durch diese
interne Entwicklung erledigt sich der Kapitalismus, so Mason, von selbst –
ganz ohne Revolution oder Arbeiter_innenklasse.
Skeptischer ist Michael Krätke, Professor für Politische Ökonomie an der
Uni Lancaster: „Marx’ Analysen der technologischen Entwicklung seiner Zeit
haben sicher einen Gebrauchswert für die Analyse der gegenwärtigen
Entwicklung.“ Jedoch sei die Überhöhung dieses Textabschnitts „eigentlich
grotesk. Was Marx absolut nicht behauptet, ist alles, was in den Text
hineingedeutet wird: dass Wissen an die Stelle von Arbeit trete oder dass
die Bedingungen des Marktes gesprengt würden. Paul Mason liest da hinein,
was da nirgends steht. Er ist kein Ökonom, und von der IT versteht er
nichts“, so Krätke.
Also ist die menschenleere Fabrik oder das menschenleere Büro, in denen
Maschinen die Belegschaft ersetzt haben und der Mensch nur noch, wie Marx
sagt, „Wächter und Regulator“ ist, eine Fiktion?
## Technischer ist nicht gleich sozialer Fortschritt
Der Blick auf die globale Entwicklung zeigt aber, dass der Fortschritt der
Digitalisierung weder die Fabrikarbeit abschafft noch gute Jobs für alle
ermöglicht. Auf der einen Seite bringt der digitale Kapitalismus neue
Formen der prekären, eintönigen und körperlich wie psychisch belastenden
Schufterei. Auf der anderen Seite gehen mit ihm neue, durchaus progressive
Lebens- und Arbeitsformen einher: Die Millennials, die Generation der nach
1980 Geborenen, kennt keine Welt mehr ohne Smartphones oder Wikipedia, sie
ist aktiv in Projekten und weltweit vernetzt. Frei verfügbares Wissen ist
eine Ressource, von der Marx nur geträumt hätte. Bringen Maschinen und
Algorithmen nun mehr Freiheit oder stellen sie eine neue Form der
Unterdrückung dar?
Technik ist immer in ein Gesellschaftssystem eingebettet, birgt aber auch
die Möglichkeiten, dies zu verändern. Dietmar Dath bringt dies in seinem
Essay „Maschinenwinter“ auf den Punkt. Alle Technik „erhält Keimformen d…
Freiheit ebenso gut wie Blaupausen der Unterdrückung, von denen keine je
abgegolten, je ganz eingelöst, je ganz überwunden wurde“.
Unter kapitalistischen Bedingungen bedeutet technischer Fortschritt nicht
zwingend sozialen Fortschritt – es kann sogar ins Gegenteil umschlagen. Um
dies zu verstehen, lohnt es sich weiterhin, Marx zu lesen. Seine genauen
Analysen bewahren davor, voreiligen Untergangsszenarien, wie Mason sie
formuliert, zu folgen. Gegenüber solchen Schnellschüssen bleibt deshalb im
Anschluss an Marx die Erkenntnis, dass der Einsatz für eine
Digitalisierung, welche die Lebensbedingungen der Menschen verbessert,
notwendig mit der Kritik an der kapitalistischen Konkurrenz- und
Verwertungslogik verbunden bleiben muss.
Oder, wieder dialektisch, mit Dath gesprochen: „Zerschlagt die Apparate,
aber schützt die Bauanleitungen.“
30 Dec 2017
## AUTOREN
Christopher Wimmer
## TAGS
Karl Marx
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