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# taz.de -- Debatte Amazon Flex: Anhängsel des Algorithmus
> Der Versandhändler will die Paketzustellung einem Heer von rechtlosen,
> digitalen Tagelöhnern überantworten. Das sollte ein Signal auslösen.
Bild: Demonstration gegen die miserablen Arbeitsbedingungen beim Internetversan…
Der Flexbot 6 ist ein roh zusammengeschraubtes Holzkästchen, das ein
Smartphone in Position hält, damit zwei Gumminoppen, die von einem kleinen
Elektromotor betrieben werden, ununterbrochen auf ihm herumklopfen können.
Die schlichte Konstruktion kostet im Internet 140 Dollar. Doch der Anbieter
T&S Empire verspricht: „Diese Kosten kann man an einem Tag wieder
reinholen.“
Denn der Flexbot ist für Mitarbeiter des Lieferdienstes Amazon Flex
gedacht. Und der funktioniert so: Autobesitzer holen mit dem eigenen Wagen
Amazon-Pakte beim Lieferzentrum ab und stellen sie zu – eine Art Uber oder
Lieferando für Pakete. Amazon bewirbt den Dienst in Berlin, wo gegenwärtig
Zusteller gesucht werden, mit diesen Worten: „Seien Sie Ihr eigener Chef
und arbeiten Sie nach Ihrem Zeitplan, um mehr Zeit zu haben, Ihre Ziele und
Träume zu verwirklichen. Werden Sie Amazon-Flex-Lieferpartner und nutzen
Sie die geballte Power von Amazon.“
Tatsächlich ist es wohl eher Amazon, das die „geballte Power“ eines
Schwarms von freiberuflichen Teilzeit-Drohnen profitmaximierend zu nutzen
gedenkt. Statt sein eigener Chef zu sein, darf man sich als „Lieferpartner“
von einem Algorithmus durch die Stadt hetzen lassen. Der teilt der
Abrufarmee, die für Amazon Pakete zustellen will, per Smartphone-App
Zeitblöcke mit, in denen es Arbeit gibt.
Und hier kommt der Flexbot ins Spiel: Weil in den USA, wo Amazon Flex
bereits seit Sommer 2015 am Start ist, oft zu viele Fahrer um zu wenige
Zeitfenster konkurrieren, tippen die beiden Gumminoppen des Geräts nonstop
auf dem Smartphone herum: die eine „refresht“ unterbrochen die App, die
andere sichert sich durch Klopfen im Dauerfeuer-Modus jeden neuen
Zeitblock, der von dem Programm hoffentlich irgendwann angezeigt wird.
Betrieben wird der Apparat mit Strom, der aus der Feuerzeug-Buchse des
Autos kommt.
Krasser als dieses Maschinchen kann man die neue Form von Ausbeutung kaum
zum Ausdruck bringen, die Amazon Flex darstellt. Zwischen Anbieter und
„Lieferpartner“ herrscht eine vollkommen asymmetrische Machtverteilung, die
als Flexibilität der Mitarbeiter verkauft wird. Wer für Amazon Flex
arbeitet, ist ein austauschbarer Automat, der gegenüber seinem Auftraggeber
nur ein Recht hat – nämlich Aufträge anzunehmen oder abzulehnen. Wer nicht
funktioniert, wird – nein, noch nicht mal gefeuert, sondern in der App
„deaktiviert“. Diskussion beendet.
## Anhängsel einer Maschine
Für solche neuen Arbeitsmodelle hat sich der Begriff der „Gig-Ökonomie“
durchgesetzt. Für sie gilt im Grunde, was Marx im „Kapital“ über die Arbe…
in der Fabrik geschrieben hat: Die Produktionsmittel „verstümmeln den
Arbeiter in einen Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der
Maschine.“
Wie Erfahrungen in den USA zeigen, gibt der Algorithmus gerne Zustellzeiten
vor, die nicht einzuhalten sind. Im Gegensatz zum Fabrikarbeiter sind die
Amazon-Flex-Befehlsempfänger nicht fest angestellt, sondern Freelancer. Und
da alle „Lieferpartner“ nur über die App mit ihrem Arbeitgeber verbunden
sind, entfällt die Möglichkeit, sich untereinander auszutauschen oder sich
gar kollektiv zu wehren – anders als in der Fabrik, in der sich die
Anhängsel der Maschine wenigstens noch am selben Ort befinden.
Arbeitgeberleistungen wie den Anteil in Kranken- und Rentenkasse oder
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall kann man sowieso vergessen.
Mit solchen Methoden ist der Fahrdienstvermittler Uber in hierzulande
krachend gescheitert. Gott sei Dank! Das Unternehmen hat sich aus
Deutschland erfreulicherweise weitgehend zurückgezogen. Amazon hat aus
diesem Fall gelernt. Schon bei Anmeldung über die App wird man darüber
informiert, dass Amazon Flex kein volles Einkommen sichert, sondern
lediglich ein Zuverdienst ist und dass man für die Mitarbeit einen
Gewerbeschein braucht. Diese Möglichkeit mag von Studenten oder Hausfrauen
und -männern begrüßt werden, die sich etwas dazuverdienen wollen. Dagegen
wäre nichts einzuwenden.
## Digitale Tagelöhner
Aber wenn potenziell ein Dienstleistungsgewerbe – wie die Paketzustellung –
einem Heer von rechtlosen, digitalen Tagelöhnern überantwortet wird, sollte
das bei Politik und Gewerkschaften das „Alarmstufe-Rot“-Signal auslösen.
Amazon hat die finanziellen Mittel und die kritische Masse an Lieferungen,
um im Praxistest auszuloten, wie viele Pakete man von DHL und Hermes an
Smartphone-Laufburschen umschichten kann, ohne dass der Zustellservice
zusammenbricht.
Und vielleicht ist Opa Pachulke, der sich seine magere Rente mit ein paar
Zustellrouten aufbessert, ja sogar ein verlässlicherer Zusteller als die
McJobber der Lieferdienste, die die Abholbenachrichtung in den Briefkasten
stecken, ohne vorher beim Empfänger geklingelt zu haben. Dass solche
Methoden nicht ganz koscher sind, weiß man wohl auch bei Amazon – und lässt
Interessenten darum eine fünfseitige Vertraulichkeitserklärung auf Deutsch
und Englisch unterschreiben, bevor man sie mit den Wundern von Amazon Flex
vertraut macht.
Dass Amazon – eines der zehn wertvollsten Unternehmen der Welt – glaubt, in
Deutschland mit solchen Methoden durchzukommen, ist schlüssig. Im Wahlkampf
haben solche Formen der Aushöhlung von Arbeiterrechten keine Rolle gespielt
– da musste man in den Parteiprogrammen ja schon nach Standpunkten zur
vielbeschworenen „Digitalisierung“ mit der Lupe suchen. Und es gibt keine
Anzeichen dafür, dass die SPD bei den Koalitionsverhandlungen plötzlich
solche ekeligen Arbeitsbedingungen thematisiert.
So wird es die Amazon-Flex-App erst mal einem wachsenden Prekariat von
digitalen Tagelöhnern erlauben, ihre „Ziele und Träume zu verwirklichen“ …
solange sie nicht davon träumen, von ihrer Arbeit leben zu können. Sie
können sich aber schon mal den Flexbot 6 anschaffen.
2 Jan 2018
## AUTOREN
Tilman Baumgärtel
## TAGS
Uber
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