# taz.de -- Biografie über Karl Marx: Das große Weltwerden | |
> Gareth Stedman Jones rekonstruiert einen riesigen Materialhaufen und | |
> stellt fest: Karl Marx erfand den Marxismus gar nicht. | |
Bild: Karl Marx – Erfinder des Marxismus? Wohl eher nicht | |
Noch eine Biografie über Karl Marx? Also über einen, von dem man alles zu | |
wissen glaubt. Die letzte große Marxbiografie von Jonathan Sperber erschien | |
vor knapp vier Jahren. Wäre die neueste Biografie des britischen | |
Historikers Gareth Stedman Jones, der sie zu Recht als „Die Biographie“ | |
ankündigt, nur eine weitere Biografie, wäre sie überflüssig. | |
Aber „Die Biographie“ bietet viel mehr als das, was man von einer Biografie | |
erwartet. Jones demonstriert am Leben und Werk Marx’, dass den Marx, „wie | |
ihn das 20. Jahrhundert schuf, mit dem Marx, der im 19. Jahrhundert lebte, | |
nur eine zufällige Ähnlichkeit verbindet“. Dieses Urteil trifft die | |
Marxbilder des 20. Jahrhunderts zwischen dem Zerrbild der zu | |
Weltanschauungen geschminkten Dogmenensembles unter der Marke | |
„Marxismus-Leninismus“, „Stalinismus“ und „Maoismus“ umfassender al… | |
der Tradition des „westlichen Marxismus“ oder bei verschiedenen | |
Generationen der „Frankfurter Schule“ kursierenden Marxbilder. | |
Allen bisherigen „Marxismen“ gegenüber genießt Jones’ Darstellung den | |
Vorzug, dass sie Marx’ Schriften von den Anfängen in den 40er Jahren bis in | |
die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts ebenso konsequent wie kenntnisreich | |
historisiert, d. h. in ihren historischen, philosophischen und | |
ökonomisch-politischen Kontext stellt. Jones versteht sich nicht als | |
Spezialist für Marx’ Leben und seine Befindlichkeiten, sondern als | |
„Restaurator“ des verstümmelt tradierten Werks. Jones erhebt nicht den | |
Anspruch, aus den Fragmenten ein Ganzes zu basteln, sondern nur den die | |
Fragmente für sich, d. h. aus ihrer Zeit, sprechen zu lassen. Und das tut | |
er mit der Virtuosität eines Bilderrestaurators. | |
Außer auf seine Forschungstechniken verlässt er sich auf ein grandioses | |
Hilfsmittel: auf die rund 70 von 140 geplanten Text- und Kommentarbände der | |
zweiten Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA2). Dieser Schatz aus Textvarianten, | |
Hintergrundinformationen, Personendaten und Kommentaren bildet die solide | |
Grundlage von Jones’ Restaurations- und Historisierungsarbeit, die neue | |
Einsichten in die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Marx’ Schriften | |
erschließen. | |
## Tradition der Aufklärung | |
Jones schildert zunächst das Leben der Familien Marx und von Westphalen, | |
aus der seine Jugendliebe und spätere Frau Jenny stammt, im nach Napoleons | |
Sturz preußisch gewordenen Rheinland. Es war ein Leben im Zwiespalt | |
zwischen dem Erbe Napoleons (Code civil, beseitigte Feudalaristokratie) und | |
den Hoffnungen auf die Erfüllung des Verfassungsversprechens des | |
preußischen Königs, der Kritik der Repression an den Universitäten und den | |
Karlsbader Beschlüssen von 1819 sowie dem faktischen Widerruf der | |
Emanzipation der Juden, was Marx’ Vater Heinrich bewog, sich taufen zu | |
lassen. | |
Ein Schritt, den auch der Hegelianer Eduard Gans tat, um in Berlin | |
Professor werden zu können. Marx lernte Gans als Privatdozenten im Berliner | |
„Doktorclub“ kennen wie auch den Theologen Bruno Bauer. Die politisch | |
liberale Phase in Preußen ging zu Ende, als 1840 der konservative Friedrich | |
Julius Stahl Nachfolger Gans’ wurde und der der Mystik und der Theosophie | |
nahestehende Friedrich Wilhelm Schelling (1775–1854) den Lehrstuhl Hegels | |
übernahm. | |
Marx reichte seine Dissertation über Demokrit und Epikur 1841 in Jena ein. | |
Im junghegelianischen Duktus verpuppt, den er von Bruno Bauer übernahm, | |
tauchte in Marx’ Dissertation ein Denkmotiv auf, dem er lebenslang treu | |
blieb: „Das Philosophischwerden der Welt (ist) zugleich ein Weltwerden der | |
Philosophie“. Das Motiv erscheint in kontextgerechter Form in den | |
„Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ (1844) und in den Thesen zu | |
Feuerbach ebenso wider wie in den „Grundrissen“ Ende der 50er Jahre. Jones | |
entfaltet diese Kontinuitätslinien in subtilen, textnahen Analysen. | |
Mit der Philosophie Ludwig Feuerbachs entdeckte Marx das „Dasein der | |
Religion“ als das „Dasein eines Mangels“ bzw. einer „verkehrten Welt“, | |
nämlich die Aufspaltung des Menschen in einen gläubigen Menschen und einen | |
politischen und aufgeklärten Staatsbürger. Mit dem mechanischen | |
Determinationsverhältnis von Basis und Überbau bzw. einem „neuen | |
Materialismus“ oder einer „materialistischen Weltanschauung“ (Friedrich | |
Engels) hat diese Spaltung oder „Entfremdung“ nichts gemein. | |
## Eigenartiges Parteiprogramm | |
Marx’ Einsicht beruhte auf seinem an Hegel orientiertem Verständnis von | |
Arbeit, als menschlicher Selbsttätigkeit und Weltveränderung. Marx folgte | |
also nicht einem kruden naturwissenschaftlich-naturalistisch verstandenen | |
Materialismus, sondern der Tradition der Aufklärung, die Emanzipation als | |
Befreiung des Menschen „aus der Vormundschaft der Natur“ (Kant) durch | |
Vernunft verstand. Marx erweiterte den Begriff „Befreiung“ in den | |
„Grundrissen“ um eine politisch-soziale Dimension als | |
„Selbstverwirklichung, Vergegenständlichung des Subjekts, daher reale | |
Freiheit, deren Aktion eben die Arbeit“ ist. | |
Präzise rekonstruiert Jones auch andere fatale Wirkungsgeschichten, denen | |
nach Marx’ Tod „der“ Marxismus entsprang: etwa das Konstrukt | |
„materialistische Geschichtsauffassung“ oder „historischer Materialismus�… | |
aus dem Konglomerat von Pamphleten gegen frühere Mitstreiter, das erstmals | |
1932 unter dem Titel „Die Deutsche Ideologie“ veröffentlicht und über Nac… | |
kanonisiert wurde. Die von Dawid Rjasanow, dem von Stalin ermordeten | |
Herausgeber der ersten MEGA, erstellte Textfassung ist so von Marx nie | |
konzipiert worden. Die Details zum nachträglichen Konstrukt „Deutsche | |
Ideologie“ werden in der bald zu erwartenden Edition in der MEGA2 | |
vorliegen. | |
Faktisch blieb auch das auf sechs Bände angelegte Werk „Das Kapital“ ein | |
Materialhaufen aus Fragmenten und Entwürfen, aus denen Marx 1867 den ersten | |
Band zusammenstellte. In der Edition der MEGA2 umfasst das Material zum | |
vermeintlich dreibändigen „Hauptwerk“ 15 Bände in 22 Teilbänden auf rund | |
12.000 Seiten. | |
Auch Marx’ politische Schriften bedürfen der Kontextualisierung. Für den | |
„Bund der Kommunisten“ verfasste Marx 1847/48 das zugleich eigenartigste | |
und weltweit verbreitetste Parteiprogramm. Eine „Partei“ der Kommunisten | |
existierte zu dieser Zeit und noch lange danach gar nicht, und als | |
politisches Programm war der sprachlich brillant formulierte Text | |
widersprüchlich. So empfahl er eine politische Allianz mit den Liberalen, | |
um dem Kapitalismus, den Marx zu dieser Zeit mit Fortschritt gleichsetzte, | |
zum Durchbruch zu verhelfen. Gleichzeitig unterstellte das Manifest dem | |
bürgerlichen Liberalismus und seinen Regierungen nur ein Motiv, nämlich die | |
Lage des Proletariats zu verschlechtern. | |
## Freie Sicht auf die Arbeiterbewegung | |
Marx’ Aktivität in der Revolutionszeit in Brüssel, Köln und Paris | |
orientierte sich strikt am Ablauf der Revolution von 1789. Im Vordergrund | |
stand die Forderung nach der „bürgerlichen Republik“, die Marx jedoch im | |
Unterschied zu seinen liberalen Bündnispartnern nur als Durchgangsstadium | |
verstand. Das Illusionäre der Strategie lag auf der Hand. Der liberale | |
Bündnispartner von heute sollte den Radikaldemokraten die Waffen liefern, | |
die sich im nächsten Schritt auf sie selbst richteten. | |
„Revolutionsphantasien“ statt Auseinandersetzung mit den „neuen Realität… | |
bestimmten Jones zufolge Marx in den Jahren 1848/49: „Revolutionäre | |
Erhebung der französischen Arbeiterklasse, Weltkrieg – das ist die | |
Inhaltsanzeige des Jahres 1849“ – so Marx am 31. 12. 1848. Ein halbes Jahr | |
später herrschte die „Ordnungspartei“ in Paris, und in Berlin und Wien | |
saßen König und Kaiser noch bzw. wieder fest im Sattel. | |
Eine realistische, von geschichtsphilosophischen Projektionen freie Sicht | |
auf die Arbeiterbewegung gewannen Marx und die „Partei Marx“ erst in den | |
60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts, im historisch-politischen | |
Kontext der Gründung der „Internationalen Arbeiter-Assoziation“ (IAA), der | |
deutschen „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ („Eisenacher“) und der | |
Pariser Commune von 1871. Erst jetzt, gut 20 Jahre vor seinem Tod 1883, | |
wurde Marx dem europäischen Publikum bekannt, aber mit Sicherheit nicht als | |
Erfinder „des“ Marxismus. | |
11 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
## TAGS | |
Karl Marx | |
Marxismus | |
Kapitalismus | |
Arbeiterklasse | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024 | |
Politisches Buch | |
Karl Marx | |
Karl Marx | |
Karl Marx | |
Demokratie | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
PDS-Rauswurf von Egon Krenz 1990: Belastung für die Partei | |
Am 20. 1. 1990 warf die SED-PDS Egon Krenz und weitere Mitglieder der | |
Nomenklatura aus der Partei. Das Tribunal hatte theatralische Qualität. | |
Debatte Finanzkasino: Genial und manchmal falsch | |
Mit seinen Prophezeiungen lag das Kommunistische Manifest von Karl Marx | |
daneben. Trotzdem hat es uns heute noch was zu sagen. | |
Marxismus und Digitalisierung: Die automatische Revolution | |
Streng nach Marx stünde das kapitalistische System im aktuellen digitalen | |
Zeitalter kurz vor dem Zusammenbruch. Stimmt das? | |
150 Jahre „Das Kapital“ von Karl Marx: „Gleichmacherei ist ihm ein Horror… | |
Eines der Hauptwerke von Karl Marx erschien vor 150 Jahren. Der Historiker | |
Gerd Koenen über Kommunismus, die Bolschewiki und das, was von Marx | |
übrigblieb. | |
Neues Buch von Hardt und Negri: Was möglich ist | |
Die Verfechter der Multitude suchen in „Assembly“ nach Wegen politischer | |
Emanzipation. Ihr Vorschlag: der Aufbau nicht souveräner Institutionen. |