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# taz.de -- Essay Deutsch-französische Freundschaft: Wann, wenn nicht jetzt
> Vor 55 Jahren besiegelten Deutschland und Frankreich den Élysée-Vertrag.
> Die Staaten müssen wieder an einem Strang ziehen – für Europa.
Bild: Macron hat einen Plan für Europa. Und Merkel?
„Die deutsch-französische Freundschaft ist ein wertvolles Geschenk, das uns
die Geschichte vermacht hat.“ So merkwürdig beginnt die ansonsten kluge
Resolution, die der Deutsche Bundestag und die französische
Nationalversammlung zum 55. Jahrestag des Élysée-Vertrags am kommenden
Montag beschließen wollen.
Die deutsch-französische Partnerschaft als „Geschenk der Geschichte“? Der
am 22. Januar 1963 von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer unterzeichnete
Élysée-Vertrag war nach den blutigen Weltkriegen und deutschen Verbrechen
in Frankreich der entscheidende Ausgangspunkt für ein neues Miteinander.
Viele Menschen und Initiativen haben sich seitdem mit großer Energie und
dem nötigen Feingefühl dafür eingesetzt, diese Partnerschaft auf- und
auszubauen. Für gewöhnlich wird dieser Jahrestag mit verstaubten Ritualen
und einigem historischem Pathos zelebriert.
Am Tag danach geht es weiter wie gehabt. Das darf in diesem Jahr auf keinen
Fall geschehen!
## Gefährliche Anti-Brüssel-Haltung
Dafür gibt es drei Gründe. Erstens: 2018 ist ein Schlüsseljahr für die
immer noch krisengeplagte Europäische Union. Nach dem Siegeszug
rechtsautoritärer Kampagnen beim Brexit-Referendum und der Wahl von Donald
Trump war es Emmanuel Macron, der mit einem klar proeuropäischen Wahlkampf
eine europafeindliche Marine Le Pen und ihren Front National in die Knie
zwang. Der FN hat sich danach gespalten, die jahrelang die französische
Innenpolitik dominierende Le Pen liegt am Boden.
Auch ein von ganz links auf antieuropäische und antideutsche Ressentiments
setzender Jean-Luc Mélenchon hat nur knapp die Endrunde der
Präsidentschaftswahlen verfehlt. Erstaunlich ist, wie dank Macron aus
dieser gefährlichen Anti-Brüssel-Haltung in kurzer Zeit eine überwiegend
proeuropäische Aufbruchsstimmung in Frankreich wurde.
Wichtig dafür war und ist Macrons Leitmotiv eines „Europe qui protège“,
eines Europas, das seine Menschen schützt, ihnen Sicherheit bietet, gerade
auch in Bezug auf ihre soziale und wirtschaftliche Situation. Er will dafür
insbesondere eine stärkere Koordination der Wirtschafts- und Finanzpolitik
sowie eine Investitionsoffensive in einer wirtschaftlich zunehmend
auseinanderklaffenden Eurozone.
Ganz oben auf die Agenda gehört für ihn der Kampf gegen Sozialdumping in
der EU sowie gegen den Wettbewerb möglichst niedriger Unternehmensteuern.
Er fordert ein rundum erneuertes Sozialmodell für die EU. Damit trifft er
einen Nerv, nicht nur in Frankreich, sondern auch in vielen Teilen
Südeuropas, die mit Jugendarbeitslosenquoten von bis zu 40 Prozent
konfrontiert sind.
## Macron packt an
Der zunehmende Vertrauensverlust in Europa wurde kräftig genährt durch die
Finanz- und Bankenkrise von 2007, die bis heute bei vielen Menschen zu dem
Eindruck geführt hat, für Banken seien Rettungsmilliarden schnell zu
mobilisieren gewesen, für sie selbst aber nicht. In der französischen
Debatte dominierte in den letzten Jahren das Bild von Brüssel als scharfem
Schwert der Globalisierung, das die soziale und wirtschaftliche Sicherheit
bedrohe.
Beigetragen hat dazu auch die Europapolitik einer Bundesregierung, die
Strukturreformen und Haushaltskonsolidierung als Allheilmittel gegen die
europäische Wirtschaftskrise predigte. In Deutschland selbst wurde diese
bittere Medizin übrigens so nie verordnet, weder nach der Wiedervereinigung
noch bei der Durchsetzung der Agenda 2010, als Deutschland selbst die
3-Prozent-Defizit-Grenze verletzte, oder in den dramatischen Tagen und
Wochen der Wirtschafts- und Finanzkrise, auf die milliardenschwer mit
Abwrackprämie und Kurzarbeitergeld reagiert wurde.
Nun hat Emmanuel Macron in noch nicht einmal einem Jahr mehr
Strukturreformen angepackt als Angela Merkel in 12 Jahren, mit
schmerzhaften Einschnitten für viele Menschen in Frankreich – und er steht
erst am Anfang. Auch soll mit dem ersten von seiner Regierung
verantworteten Budget für 2018 die 3-Prozent-Defizit-Höchstgrenze
eingehalten werden. Spätestens jetzt hat Berlin wirklich keine Ausreden
mehr dafür, nicht endlich auf den französischen Partner zuzugehen.
Den deutsch-französischen Motor so auf Touren zu bringen, dass er alle
EU-Partner auch wirklich mitzieht und nicht etwa abhängt, dafür ist 2018
das entscheidende Jahr. Im Frühjahr 2019 wird der Wahlkampf für das
Europarlament im Zentrum des Interesses stehen und die politischen Kräfte
beidseits des Rheins binden.
## „Europa, das schützt“
Danach wird es bis Ende 2019 dauern, bis eine neue Europäische Kommission
installiert und arbeitsfähig ist. Im Frühjahr 2020 steht Frankreich ganz im
Zeichen der Kommunalwahlen, und Deutschland steuert bereits auf die
Bundestagswahlen 2021 zu, sollte es nun wirklich zu einer Großen
Koalition kommen.
Zweitens: Dieses entscheidende Jahr gilt es deshalb zu nutzen, weil es eine
große Chance bietet. In Paris gab es lange nicht mehr eine gegenüber
Deutschland so offene Regierung – angefangen von Präsident Macron selbst
über seinen Premierminister Édouard Philippe bis zu Finanz- und
Wirtschaftsminister Bruno Le Maire sowie dem populären Minister für
ökologische Transformation, Nicolas Hulot. In seiner bemerkenswerten
Sorbonne-Rede vom vergangenen September hat Macron eine klare Vision eines
zukünftigen „Europa, das schützt“ sowie einen Fahrplan und konkrete
Vorschläge vorgelegt.
All das fehlt von deutscher Seite, bislang hat Berlin darauf nur mit
Schweigen geantwortet, auch weil noch keine Regierungsbildung erfolgt ist.
Nur im Bereich der Verteidigungspolitik wurde die schon länger geplante
verstärkte Zusammenarbeit zwischen 23 EU-Mitgliedern vorangebracht. Aber
selbst bei dem von Emmanuel Macron am 12. Dezember in Paris organisierten
Klimagipfel hat ihn seine wichtigste Partnerin Angela Merkel im Regen
stehen lassen und ist nicht aufgetaucht.
Drittens ist 2018 ein historisch hochgradig aufgeladenes Jahr für die
deutsch-französischen Beziehungen: Am 11. November sind es genau 100 Jahre
seit dem Ende des Ersten Weltkrieges, der in der französischen kollektiven
Erinnerung viel lebendiger und präsenter ist als etwa in Deutschland. Bis
heute ist der 11. November in Frankreich ein Feiertag.
## Ein historisch einmaliges Konstrukt
1918 war für Deutschland aber auch das Jahr des Endes der Monarchien und
des Beginns einer demokratischen Regierungsform. Wenn auch zunächst
bekanntlich nicht sehr erfolgreich, war es doch ein Grundstein für den
Aufbau einer Demokratie nach 1945 in einem Teil Deutschlands und nach der
friedlichen Revolution der Menschen in der DDR 1989 in allen Teilen.
Welches Jahr, wenn nicht dieses Jahr 2018, wäre daher besser geeignet, dem
Friedens- und Demokratieprojekt Europa mit kraftvollen
deutsch-französischen Initiativen neuen Schwung zu geben? Europäische
Politik so zu gestalten, dass im Sinne eines „Europa, das schützt“, die
Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedsstaaten wieder
Vertrauen zurückgewinnen in dieses historisch einmalige Konstrukt? Ein
Konstrukt, in dem Mitgliedsstaaten ihre Divergenzen an Verhandlungstischen
in Brüssel lösen und nicht durch geopolitisch geprägte
Einschüchterungsrhetorik oder gar auf Schlachtfeldern.
Der tägliche Blick auf US-Präsident Donald Trump unterstreicht, welch
bedeutende Errungenschaft das ist. Jetzt gilt es, die Chance zu nutzen, ein
Europa wieder zu beleben, das sein Modell einer liberalen und
grundrechtsbasierten Demokratie gegenüber rechtsautoritären und
diktatorischen Regimen verteidigt.
Wann, wenn nicht jetzt, könnte mit einer europäisch gestalteten
Flüchtlings- und Migrationspolitik das Trauerspiel beendet werden, dass die
Mitgliedsstaaten sich wechselseitig die Verantwortung zuschieben, sich
wegducken oder mit Stimmungsmache den Anschein erwecken, dies könne
irgendwie national, durch absurde Obergrenzen oder einen Wettbewerb
möglichst brutaler Arten der Missachtung der Menschenrechte von
Flüchtlingen wirksam geregelt werden.
## Schlüsseljahr 2018
Allein: Bislang war auch der Start in dieses Schlüsseljahr 2018 wenig
verheißungsvoll. Nicht nur dass es auf Macrons Europarede hin keine
Reaktionen aus Berlin gab, auch sein Vorschlag, den Jahresauftakt kraftvoll
mit einem neu verfassten Élysée-Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich
zu beginnen, lief mangels einer handlungsfähigen Regierung ins Leere.
Umso wichtiger, dass diese Lücke nun wenigstens die beiden Parlamente, der
Deutsche Bundestag wie die französische Nationalversammlung, ausfüllen –
mit dem gleichlautenden Beschluss zum Élysée-Vertrag am kommenden Montag.
Das ist ein wichtiges Zeichen zum Jahresauftakt 2018. Darin fordern die
Parlamente auch ihre beiden Regierungen auf, in spätestens einem Jahr einen
neuen Élysée-Vertrag vorzulegen, der die deutsch-französischen
Kooperationen auf eine neue Stufe hebt und Europa voranbringt.
Offen ist, ob die Chance und Bedeutung dieses Schlüsseljahres 2018 in
Berlin wirklich erkannt werden – und die Erkenntnis zu Regierungshandeln
wird. Darüber müssen jetzt zunächst die SPD-Delegierten an diesem Sonntag
entscheiden. Zumindest in Bezug auf den deutsch-französischen Motor und
Europa enthält das Sondierungspapier Elemente, die Emmanuel Macron die Hand
reichen.
Was dort bisher skizziert ist – die Bereitschaft, mehr Verantwortung für
ein solidarisches Europa zu übernehmen,mit den sozialen Grundrechten und
der Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit voranzukommen, endlich die
Finanztransaktionssteuer einzuführen sowie gegen das Steuerdumping bei der
Unternehmensbesteuerung in Europa vorzugehen –, könnte Macrons Vision von
einem seine Bürgerinnen und Bürger glaubwürdig schützenden Europa ein paar
Schritte voranbringen.
## Im Sondierungspapier fehlt ein zentraler Aspekt
Zumindest wenn die SPD diesmal eine Kursänderung auch in der
Regierungsverantwortung durchsetzen würde. Eine wichtige Rolle Berlins
gegenüber Paris wäre dabei, sich dafür einzusetzen, dass sich dieses
„schützende Europa“ nicht nur auf die Eurozone, sondern auf alle 28
Mitgliedsstaaten erstreckt.
Im großkoalitionären Sondierungspapier fehlt allerdings ein zentraler
Aspekt aus der Sorbonne-Rede des französischen Präsidenten völlig: Europa
zur Avantgarde einer ökologischen Transformation zu machen und mit einer
wirkungsvollen CO2-Besteuerung nicht nur den Klimaschutz voranzubringen,
sondern auch europäische Eigenmittel für Investitionen zu schaffen. Davon
könnte das im Bereich der Green Economy gut aufgestellte Deutschland in
besonderer Weise profitieren.
22 Jan 2018
## AUTOREN
Jens Althoff
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