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# taz.de -- Klimaschutz in Großbritannien: Weltmeister im Abstiegskampf
> Kein Industrieland hat eine so gute Klimabilanz wie Großbritannien. Doch
> jetzt stockt die Energiewende. Der Brexit macht alles noch komplizierter.
Bild: Viele der Doppeldeckerbusse fahren bereits mit E-Motor
Keine Industrienation ist beim Klimaschutz weiter als die Briten. Wie grün
die Insel ist, zeigen nicht nur die größte schwimmende Solaranlage der Welt
– 13 Kilometer hinter dem Flughafen Heathrow – oder die weltberühmte Tate
Gallery in London, die moderne Kunst in einem stillgelegten Kohlekraftwerk
ausstellt: Um 42 Prozent haben die Briten seit 1990 CO2-Emissionen gesenkt.
Deutschland hingegen bleibt bei 28 Prozent stehen.
Großbritannien, das Mutterland der industriellen Revolution, verzichtet bis
2025 vollständig auf Kohle. Anders als im Energiewendeland Deutschland hat
das britische Parlament bereits 2008 mit dem „Climate Change Act“ über alle
Parteigrenzen hinweg den Klimaschutz für Jahrzehnte festgeschrieben; ein
unabhängiges Klimawandel-Komitee (CCC) misst und kritisiert regelmäßig die
Fortschritte der Regierung auf dem Weg zur klimaneutralen Gesellschaft.
„Klimaschutz und Wirtschaftswachstum schließen sich nicht aus“, bilanziert
die aktuelle Studie einer Umweltorganisation. Das liegt wohl auch an den
saftigen Preisen für Klimasünder. Wer eine Tonne CO2 in die Luft jagt,
zahlt auf der Insel 25 Euro – fünf mal so viel wie in Deutschland.
Umso größer war für die Briten der Schock, als Ende Juni die Experten des
CCC warnten: „Der Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft könnte
durch fehlendes Handeln der Regierung entgleisen.“ Fortschritt gebe es nur
bei der Stromerzeugung, monierte der Rat der Weisen. Im Verkehr und bei der
Heizung von Wohnhäuser dagegen stiegen die Emissionen wieder an.
„Großbritannien ist globaler Führer beim Klimawandel“, warnte CCC-Chef Lo…
Deben, „aber der Fortschritt zu Hause wird ohne dringende neue Aktivitäten
auf der Stelle treten.“
## British Way of Klimaschutz
Plötzlich spielt der Weltmeister gegen den Abstieg. The British Way of
Energiewende stößt an seine Grenzen. Und nun gefährdet auch der Brexit das
bisher Erreichte beim Klimaschutz. Der britische EU-Ausstieg widerspricht
in so ziemlich allem der Idee von einem dekarbonisierten Land. Für die
Umstellung auf Öko-Energie braucht es mehr, nicht weniger Vernetzung mit
den Nachbarn. Schon sorgen sich Investoren, die den Bau von Stromkabeln
unter dem Kanal und von Offshore-Windparks vor der britischen Küste
finanzieren. Der schnelle Stromhandel zwischen dem Festland und der Insel,
die viel Strom braucht, wird außerhalb der Wirtschaftsunion langsamer. Die
Atomkraftwerke auf der Insel müssen bei einem „Brexatom“ ihr
Sicherheitssystem, ihren Zugang zu Uran und die Entsorgung ihres Abfalls
neu ordnen, was Jahre dauern dürfte.
Eine Studie des renommierten Thinktanks Chatham House warnt, die Briten
müssten beim Austritt aus dem EU-Emissionshandel ein eigenes System dafür
aufbauen. Und was ist mit Irland? Die Insel hat bislang zwischen Nord und
Süd ein einheitliches Stromnetz und einen gemeinsamen Strommarkt, die
Trennung würde zu „teurer Verdopplung von Infrastruktur und Behörden
führen“. Die Hoffnung der Experten: Energiefragen seien so wichtig für
Großbritannien und die EU, dass sie hier leichter zu Kompromissen kommen
könnten. Auch wenn die Briten dafür irgendwie die Rechtsprechung des
EU-Gerichtshofs anerkennen müssten.
So oder so wird Europas Umwelt unter dem Brexit leiden, sind sich Experten
sicher: Der Emissionshandel wird ohne die Briten noch schwächer, die Stimme
der EU ohne die ausgebufften britischen Klima-Diplomaten weltweit noch
leiser, Vorreiter wie Deutschland, Schweden oder Frankreich trauern um
einen wichtigen Verbündeten.
Verlierer gibt es auf beiden Seiten des Kanals. Die EU kann sich nicht mehr
mit dem „größten Dekarbonisierungsprojekt Europas“ brüsten: In Nordengla…
nahe bei Leeds, raucht das größte britische Kohlekraftwerk Drax aus seinen
sechs Blöcken, von denen allerdings drei nicht mehr Kohle, sondern
klimaschonend Holzschnitzel verbrennen – bisher immer ein schönes Symbol
für Europas Anstrengungen bei der Energiewende. Und die Briten verlieren
jedes Jahr etwa drei Milliarden Euro, die aus Brüssel für die bislang
vorbildliche Energie- und Klimapolitik fließen.
Nicht die einzige Sorge des Klimaweltmeisters. Denn der Erfolg bei der
Dekarbonisierung, dem Abschied von den fossilen Brennstoffen, hat seinen
Preis: Die Briten heizen mit Gas, was billiger und sauberer ist – aber eben
auch das Klima aufheizt. Eine Umstellung auf Strom oder eine bessere
Dämmung der bestehenden Häuser würde jedoch „Hunderte von Milliarden
kosten“, schätzt Richard Howard. Der Klimaexperte des Instituts Policy
Exchange hat sein Büro im Regierungsviertel Westminister. Den Menschen das
zuzumuten, sei „nicht wirklich populär“.
## Bis 2020 Weichen stellen
Dazu komme, dass kaum neu gebaut wird. „Wir haben 27 Millionen Wohnhäuser,
die schon stehen. Da etwas zu ändern, wird teuer. Und wir bauen jedes Jahr
nur 100.000 Häuser, bei denen Effizienz von Anfang an mitgeplant wird.“ Bis
2020, so Howard, müssten die Weichen gestellt werden, wie Hunderte von
Milliarden Pfund investiert werden müssen. Howard hat mit seinem Institut
aufgelistet, was ansteht: Den Verkehr vom Benzin und Diesel wegbringen.
Schneller die erneuerbaren Energien ausbauen. Den Neubau des umstrittenen
und teuren Atomkraftwerks Hinkley Point C vorantreiben. Die Heizungen in
den alten viktorianischen Häusern zu modernisieren, wo viele Menschen noch
mit Freude aus einfach verglasten Fenstern mit schrecklicher Ökobilanz auf
die Welt da draußen blicken.
Wie das ginge, kann der Besucher sehen, der in Victoria Station den Zug
nach Hackbridge besteigt. Hier, wo das urbane London nach Süden hin in
Wiesen, Brombeerhecken und Eichenwälder ausfasert, liegt an der London Road
gut versteckt BedZED, die „Beddington Zero Emissions Development“ – eine
kleine Ökosiedlung, mitten in einer Kleinstadt, deren Häuser sonst aus
unverputztem Backstein und aus abblätternder Farbe bestehen. Vor 15 Jahren
baute hier der gemeinnützige Peabody Trust eine Mustersiedlung von 82
Häusern: Mit hohen Glaswänden, die die Sonne hereinlassen, keine Heizung
benötigen, mit aktiver Lüftung und ohne Gas – ähnlich der Solarsiedlung in
Freiburg, ohne den badischen Ordnungsfimmel. „Die Leute wohnen gern hier“,
sagt John Church, der in seinem Vorgarten Laub harkt. „Die Miete ist okay,
die Energiekosten gering, es gibt Spielplätze für die Kinder.“ Nur die
Solarpaneele am Balkon und die Ladestellen für Elektroautos „funktionieren
nicht“. Es stehen auch keine schicken E-Mobile im BedZED-Hof.
## May hat andere Sorgen
Das soll sich ändern, meint Theresa May. Elektroautos will die
Premierministerin massiv fördern. Schon jetzt rollen viele der roten
Doppeldeckerbusse ohne Verbrennungsmotor durch London, neue Taxis sollen
E-Motoren haben. Auch die britische Hauptstadt hat ein Riesenproblem mit
dreckiger Luft, der Bürgermeister lädt zu Gesprächsrunden dazu ein und will
Dieselmotoren verbieten. Aber sonst lässt sich May Zeit, die sie eigentlich
nicht hat. Seit Ende letzten Jahres ist ihr „Green Growth-Plan“ überfälli…
Darin soll stehen, wie sie den engen Rahmen des CO2-Budgets ausfüllen will,
das ihr die CCC für die Jahre 2028–2032 zugesteht. Er soll nun im Herbst
kommen. Eine Interviewanfrage lässt das neue Ministerium für „Wirtschaft,
Energie und Industrielle Planung“ unbeantwortet. Es hat gerade das
eigenständige Klimaschutz-Ministerium geschluckt. Ohnehin hat Mays
Regierung andere Sorgen. Endlich steht eine wackelige Koalition mit der
nordirischen Partei DUP. Die zweifelt immer mal wieder am Klimawandel. „Die
DUP ist Mays geringstes Problem“, sagt Nick Molho von der
Wirtschaftsvereinigung Aldersgate Group. Mitten in Westminster machen sich
rund 50 Unternehmen stark für die grüne Wirtschaft. Vor allem der
Energieverbrauch bei Häusern sei wichtig, „wir müssen das vor allem bei
Sozialbauten verbessern“. Die Brandkatastrophe vom 14. Juni im Londoner
Grenfell-Tower, wo mindestens 80 Menschen starben, weil die Dämmung Feuer
fing, hat der Debatte allerdings nicht geholfen. Die Trümmer rauchten noch,
da machten konservative Boulevardblätter schon die Umweltvorschriften für
das Unglück verantwortlich.
Die Firmen wollen vor allem wissen, mit welchen Investitionen auf dem Weg
zu einer Green Economy sie künftig Geld verdienen können. Den britischen
Vorsprung bei der Dekarbonisierung wollen sie nutzen, um weltweit Vorteile
zu haben: Sauberer, effizienter, grüner soll „made in Britain“ sein, auch
um die Nachteile des Brexit auszugleichen. Der Fahrplan der Regierung werde
deshalb „unglaublich wichtig“, sagt Molho.
Unsicherheit hassen die Unternehmen wie die Pest. Und Unsicherheit haben
sie auf der britischen Insel derzeit mehr als genug. „Alle Klimapläne des
CCC“, sagt Molho „sind noch unter den Bedingungen entstanden, dass wir in
der EU sind.“
Diese Recherche wurde durch das „Stipendium Europäische Energiepolitik“ der
Heinrich-Böll-Stiftung ermöglicht.
24 Jul 2017
## AUTOREN
Bernhard Pötter
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