# taz.de -- Lizenzen für CO2-Emissionen: Die Zähmung des Drachens | |
> Der EU-Emissionshandel sollte das Klima retten. Dann machten ihn | |
> Politiker und Lobbyisten zu einem unbeweglichen Bürokratiemonster. | |
Bild: Das BASF-Gelände in Ludwigshafen | |
BRÜSSEL/LUDWIGSHAFEN taz | An einem heißen Tag Ende Juni schieben | |
Polizisten in schweißnasser Uniform Barrieren mit Stacheldraht auf die | |
Straßen von Brüssels Europaviertel. Im wolkenlosen Himmel knattert ein | |
Hubschrauber, zwischen den Glaskästen der EU jaulen Polizeisirenen. Beim | |
EU-Gipfel am 22. Juni fahren 28 Regierungschefs vor, winken in die Kameras, | |
geben Statements ab. Es geht um die großen, ewigen Probleme der EU: Den | |
Brexit. Die Flüchtlinge. Den Euro. | |
Drei Tage später beginnt hier fast unbemerkt das Endspiel um ein Thema, bei | |
dem Europa der Welt ein Vorbild sein wollte. Es geht um den | |
Emissionshandel. Er ist das weltweit erste System zum Klimaschutz mit den | |
Mitteln des Kapitalismus. Unternehmen in der EU dürfen nur eine bestimmte | |
Menge CO2 ausstoßen, dafür brauchen sie Lizenzen. Stoßen sie mehr aus, | |
müssen sie Lizenzen zukaufen; bleiben sie unter der Grenze, können sie | |
Lizenzen an andere Unternehmen absetzen. Das Klimagas sollte so zu einer | |
wichtigen Ziffer in den Unternehmensbilanzen werden, nur erreicht worden | |
ist das bisher nicht. | |
Die Unterhändler von Europäischem Rat, EU-Parlament und Kommission, die in | |
diesem Sommer über das Schicksal der europäischen Klimapolitik entscheiden, | |
scheuen die Öffentlichkeit. Sie ziehen sich in einen schlichten | |
Konferenzraum im Glasbunker des Europäischen Rats an der Rue de la Loi | |
zurück, um einen großen Tisch sitzen ein Dutzend Unterhändler, in einem | |
zweiten Kreis Juristen und Experten. | |
Von den vertraulichen Runden dieses sogenannten Trilogs gibt es weder | |
Protokolle noch Presseerklärungen. Hinter verschlossenen Türen wird ein | |
Deal gesucht, der alle Seiten glücklich machen soll: weniger Emissionen, | |
mehr Ausnahmen für die Industrie, mehr Geld für Osteuropa. | |
## „Der Emissionshandel arbeitet wie im Lehrbuch“ | |
Wer sich mit dem Thema befasst, ist nervös, mitten in einer Hitzewelle, die | |
so gut zum Klimawandel passt. „Da muss ich jetzt aufpassen, was ich sage“, | |
murmelt ein beteiligter Parlamentarier. Die EU-Kommission gibt offiziell | |
keine Erklärungen ab. Industrielobbyisten zeichnen ihre Gespräche mit | |
Journalisten auf, um ja nicht falsch zitiert zu werden. | |
Es geht um Milliarden von Euro, die Zukunft von Industriebranchen und die | |
Stellung Europas als Klimaschützer. Denn der Emissionshandel hat einen | |
schlechten Ruf: Er reduziert kaum CO2-Emissionen, er belastet die Kleinen | |
und schont die Großen, die Lizenzen für den CO2-Ausstoß sind viel zu | |
billig. Das europäische „Kerninstrument im Klimaschutz“, so die allgemeine | |
Ansicht, funktioniert nicht richtig. | |
Franzjosef Schafhausen widerspricht. „Der Emissionshandel arbeitet wie im | |
Lehrbuch“, sagt der große Mann mit dem weißen Haar und der runden | |
Hornbrille. „Wenn das Angebot auf dem Markt hoch ist, fallen die Preise | |
eben in den Keller.“ Der 69-jährige Volkswirt weiß, dass die EU Lizenzen | |
vom Markt nehmen muss, um den Emissionshandel zu retten. Schafhausen kennt | |
das System, er hat es selbst mit aufgebaut. | |
Jahrzehntelang arbeitete er als Beamter im Bundesumweltministerium, zuletzt | |
als Abteilungsleiter. Schafhausen ist zwischen Brüssel und Berlin | |
gependelt, hat endlose Debatten ertragen und an Details gefeilt. „Es gibt | |
zwei Leute, die in Europa den Emissionshandel begriffen haben“, scherzte | |
der deutsche Umweltminister Sigmar Gabriel gern über seinen Mitarbeiter. | |
Der eine ist verrückt geworden. Der andere ist Franzjosef Schafhausen.“ | |
## Das Ungeheuer Klimawandel | |
Schafhausen, dessen rheinischer Akzent so gut zu seinem gemütlichen Wesen | |
passt, ist seit Kurzem in Pension. Doch er kann sich immer noch in den | |
Details von „sektorübergreifenden Korrekturfaktoren“ oder | |
„Marktstabilitätsreserven“ verlieren. Gespannt blickt er nach Brüssel: Was | |
machen sie da aus seinem Lebenswerk? | |
Rückblick: 2002 beschließen die EU-Staaten voller Elan das „Europäische | |
Emissionshandelssystem“ (ETS). Um das Ungeheuer Klimawandel zu bekämpfen, | |
schaffen sie den Drachen Emissionshandel. Er soll hoch fliegen, Feuer | |
spucken und der Industrie die Zähne zeigen, damit sie den Ausstoß des | |
Treibhausgases Kohlendioxid immer weiter reduziert. | |
Die Idee ist simpel. 11.000 Kraftwerke und Fabriken in Europa, die etwa die | |
Hälfte aller europäischen CO2-Emissionen ausmachen, brauchen dafür ab 2003 | |
eine Lizenz für jede Tonne CO2. Dafür legen die Länder eine EU-weite | |
Obergrenze fest, die schrittweise sinkt. Wer weniger als die ihm | |
zugewiesene Menge CO2 produziert, kann seine Lizenzen an andere verkaufen, | |
die noch welche brauchen. | |
Klimaschutz soll da passieren, wo er am günstigsten ist. Der deutsche | |
Umweltminister heißt Jürgen Trittin, trägt einen Schnauzbart und nennt den | |
Emissionshandel „einen hochvernünftigen Kompromiss.“ Der Umweltverband WWF | |
bejubelt ihn als „Erfolgsrezept“. | |
## Zu freundlich, zu harmlos | |
Dabei ist der Drache in Wahrheit bloß ein Halbdrache, wie Nepomuk aus | |
Michael Endes „Jim Knopf“, ein Abkömmling eines Drachenvaters und einer | |
Nilpferddame. Zu freundlich, zu harmlos für einen echten Drachen. Er soll | |
die Industrie Respekt lehren, aber nicht verschrecken. Die Lizenzen für den | |
CO2-Ausstoß werden von den EU-Staaten an die meisten Unternehmen | |
verschenkt, damit diese mit Konkurrenten in den USA oder China mithalten | |
können, die billiger produzieren. | |
Zweiter Fehler: Die Staaten geben mehr Lizenzen aus, als gebraucht werden. | |
Im April 2006 stürzt der Preis ab. Von 30 Euro pro Tonne CO2 fällt er bis | |
Ende 2007 auf null. Der Drache hat sich an den Lizenzen überfressen. | |
Es kommt noch schlimmer: Plötzlich dürfen sich europäische Unternehmen auch | |
außerhalb der EU billige Lizenzen besorgen. Die Wirtschaftskrise trifft die | |
Industrie hart, die Nachfrage nach Lizenzen sinkt, der Preis bleibt unten. | |
Die EU-Staaten machen aus dem Drachen ein Bürokratiemonster. Es schießen | |
Firmen aus dem Boden, die den Unternehmen helfen, Anträge auf kostenlose | |
Lizenzen zu stellen, und Behörden, die Register aufbauen, um zu erfassen, | |
welche Unternehmen überhaupt vom ETS betroffen sind. Gauner hinterziehen | |
Steuern mit dem Emissionshandel, Hacker stehlen Millionen von Lizenzen, | |
Kraftwerke in Osteuropa bekommen milliardenschwere Ausnahmen. Und immer | |
weiter überfüttern die nationalen Regierungen den Drachen. Am Ende gibt es | |
im System drei Milliarden Lizenzen zu viel. Dabei werden pro Jahr nur zwei | |
Milliarden benötigt. | |
## Zum 22. Geburtstag ein bisschen Rauch spucken | |
Die verschwiegene Runde im Brüsseler „Trilog“ ringt nun um eine vorsichtige | |
Diät für den überfressenen Drachen. Weil Diäten immer erst morgen beginnen, | |
soll auch diese hier von 2021 bis 2030 gelten: Die Obergrenze für die | |
Emissionen sollen schneller sinken als bisher, überflüssige Zertifikate ab | |
2025 tatsächlich vom Markt verschwinden. | |
Dafür soll es weiterhin kostenlose Lizenzen für die effizientesten Anlagen | |
in der Industrie geben und mehr Geld für den Umbau der alten | |
Kohlekraftwerke in Osteuropa. Der Drache speit kein Feuer. Aber zu seinem | |
22. Geburtstag darf er ein bisschen Rauch spucken. | |
In Ludwigshafen am Rhein fürchten sie dennoch, der Emissionshandel könne | |
ihnen gefährlich werden. Der Stammsitz des Chemiekonzerns BASF ist eine | |
kleine Stadt mit 38.000 Angestellten, eigenem Krankenhaus, Güterbahnhof, | |
Umspannwerk, Bäckern und Friseur. Auf sechs Kilometern am Rheinufer steht | |
die Zentrale des weltgrößten Chemiekonzerns. | |
Drei Kraftwerke, unzählige Schornsteine und Kühltürme ragen in den Himmel, | |
grüne, graue, silberne Pipelines jeder Dicke und Länge schlängeln sich auf | |
Kabelbrücken über das gesamte Gelände. Über 150 Jahre ist die Chemiestadt | |
gewachsen, neben fünfstöckigen Backsteinhäusern stehen riesige silberne | |
Tanks, auf der Baustelle der neuen Acetylanlage wachsen 40 Meter hohe | |
Fahrstuhlschächte aus dem Boden. Die Wege hier heißen „Anilinfabrikstraße�… | |
oder „Benzolstraße“. | |
## Es riecht nicht nach Chemie | |
Besucht man das Werk, riecht es nicht nach Chemie. Nur eine einsame | |
Wächterflamme auf der Ammoniakanlage fackelt ein paar Gase ab. Sicherheit | |
ist wichtig, es gibt drei Feuerwehren, das Gelände ist umzäunt und bewacht, | |
bei der Werkstour ist Aussteigen verboten. Zwischenfälle fürchten sie hier. | |
Am 17.Oktober 2016 sägten Arbeiter ein falsches Rohr an, bei der Explosion | |
starben vier Menschen, 29 wurden verletzt. Zehn Stunden brannte das Feuer, | |
über dem Rhein stand eine riesige Rußwolke. Der Schock sitzt ihnen noch in | |
den Knochen. | |
Wolfgang Weber ist der Feuerwehrmann für BASF in Brüssel. Er soll die | |
Brände austreten, die auch vom Emissionshandel drohen. Weber, 51, Chef des | |
Lobbybüros bei der EU, kurzes dunkelblondes Haar, intensiver Blick aus | |
blauen Augen, ist ein guter Interessenvertreter. Freundlicher Umgang, alle | |
Fakten parat, verbindlich, bei Bedarf kann er aber auch gut attackieren. | |
Manchmal ist das nötig. | |
Denn BASF verschlingt für seine Produktion von Kunststoffen, Dämmmaterial, | |
Farben, Autoteilen, Vitaminen oder Grundstoffen für Tiernahrung und Windeln | |
eine Menge Energie. Der Standort Ludwigshafen allein verbraucht für seine | |
22 Milliarden Euro Umsatz im Jahr ein Prozent des deutschen Stroms und | |
stößt so viel Kohlendioxid aus wie Äthiopien. In manchen Anlagen machen | |
Strom und Gas 60 Prozent der Kosten aus. | |
„Wir stehen zum Emissionshandel“, sagt Weber. Auch weitgehend zum | |
Kompromiss, der jetzt auf dem „Trilog“-Tisch liegt und der alle Seiten | |
glücklich machen soll. Kein Wunder, dass die Industrie zufrieden ist. Die | |
Stahl-, Zement- und Chemiebranche, die viel Energie verbraucht, hat mit | |
ihren Lobbys Parlament und EU-Rat kräftig bearbeitet. Der Albtraum der | |
Industrie, laut Industrieverband „Business Europe“, sei ein | |
Emissionshandel, „der zu Knappheit am Markt führt“. Das heißt: Zu | |
steigenden Preisen. Das, was der Emissionshandel eigentlich erreichen | |
sollte. Scharfe Zähne für den Drachen. | |
## Firmen oder Klimaschutz stehen vor dem Aus | |
Etwa 5 Euro kostet derzeit eine Lizenz für eine Tonne CO2 in Europa. Rund | |
40 Euro müssten es laut Ökonomen sein, um Firmen zu bewegen, | |
Kohlekraftwerke abzuschalten, und Kunden dazu zu bringen, Häuser zu dämmen | |
und sparsame Autos zu kaufen. Solange die Gesamt-CO2-Obergrenze eingehalten | |
wird, ist das akute Klimaziel nicht in Gefahr. Aber wenn die einzelne Tonne | |
CO2 zu billig ist, verzögern die Firmen Investitionen ins Energiesparen | |
und in neue grüne Technik. | |
Die Gefahr: Wenn ab 2030 die Emissionen richtig sinken müssen, sind sie | |
darauf nicht vorbereitet. Dann stehen entweder die Unternehmen oder der | |
Klimaschutz vor dem Aus. Schon warnt das deutsche Umweltbundesamt vor einem | |
„Nachlassen der Minderungsanstrengungen“. Das vernichtende Urteil: Der | |
Emissionshandel könnte „als Bremse für ambitionierte Klimaschutzpolitik | |
wirken“. Der Drache Emissionshandel versagt nicht nur darin, die Emissionen | |
wirksam zu bekämpfen. Er hilft auch noch seinem ärgsten Feind, dem | |
Ungeheuer Klimawandel. | |
Der Druck auf die EU ist groß. Die Klimaziele müssen verschärft werden, | |
wenn das Pariser Klimaabkommen erfüllt werden soll. Dagegen hat die | |
Industrie gar nichts. Solange sie ihre kostenlosen Zertifikate bekommt. | |
BASF ist einer der Gründe, warum Deutschland in Brüssel den Ruf hat, immer | |
ein offenes Ohr für Wirtschaftsinteressen zu haben – trotz grüner Rhetorik. | |
Das Chemieunternehmen betreibe „effektive Lobbyarbeit“, sagen Gegner | |
anerkennend. „Sie haben hier viele Freunde, ich gehöre nicht dazu“, meint | |
Peter Liese, CDU-Umweltpolitiker im Parlament. Sein grüner Kollege Claude | |
Turmes erinnert daran, dass die BASF-Chefs traditionell ein enges | |
Verhältnis zu Angela Merkel haben. | |
## Chemie-Jobs in Übersee | |
BASF wurde von der deutschen Regierung und der EU-Kommission immer so gut | |
mit CO2-Lizenzen versorgt, dass sie erst ab 2020 zukaufen müssen. Bisher | |
haben sie keinen Cent bezahlt. Schließlich will auch die Politik, dass sie | |
mit der billigen Konkurrenz mithalten können. Chemie-Jobs in Übersee nutzen | |
weder Deutschland noch dem Klima. | |
Er bekomme die Lizenzen gratis, weil seine Produktion so effizient ist, | |
sagt der Konzern. Wolfgang Weber klappt dann schnell den Laptop auf und | |
zeigt Grafiken: „Wir haben unseren CO2-Ausstoß als Gesamtkonzern seit 1990 | |
um 50 Prozent gesenkt. Und je produzierter Einheit sogar um 75 Prozent.“ | |
Damit, so Weber, sei aber eine Grenze erreicht. Mehr gehe nicht mit Technik | |
und Rohstoffen von heute. | |
Dieses Argument kennt Franzjosef Schafhausen nur zu gut. „Passen Sie auf, | |
Sie sind jetzt mal die Umweltministerin“, sagt er und grinst. „Und ich bin | |
der Vorstandschef von BASF.“ Dann legt er den Kopf ein wenig schief und | |
sagt mit sanfter Stimme: „Frau Ministerin, wir machen uns große Sorgen! | |
Wenn diese Regelung so kommt, müssen wir unsere Investitionsentscheidungen | |
für Deutschland noch einmal überdenken. Es könnte sein, dass wir in Länder | |
ausweichen müssen, wo Gas und Strom nur die Hälfte kosten!“ | |
Er blickt seinen Gegenüber an. „Und Sie als Ministerin müssen dann | |
hinterher fragen: Stimmt das? Und Ihre Mitarbeiter werden sagen: ‚Das kann | |
man so sehen. Aber wir nehmen doch Rücksicht auf die energieintensive | |
Industrie. Wir geben den Unternehmen doch kostenlose Zertifikate!‘“ | |
## Der Kampf um die Chemie der Zukunft beginnt | |
Die Drohung der Industrie, man könne auch woanders produzieren, ist | |
trotzdem der Grund für all die Ausnahmen und Schlupflöcher, die den | |
Emissionshandel schwächen. Da ist es auch egal, wenn die OECD in einer | |
Studie über die Industrieländer erstaunt feststellt, dass „strenge | |
Umweltstandards nicht die Wettbewerbsfähigkeit beim Export schädigen“. | |
Oder wenn die Organisation Carbon Market Watch warnt, der Vorschlag der | |
EU-Kommission im Trilog würde bedeuten, dass die europäischen Steuerzahler | |
über diese Ausnahmen zwischen 2020 und 2030 „mindestens 160 Milliarden Euro | |
Subventionen an die größten Verschmutzer auszahlen“. | |
Franzjosef Schafhausen war lange Zeit so etwas wie der Tierpfleger für den | |
Drachen Emissionshandel. Er sah ihn über die Jahre schwächer und | |
schwächer werden. Jetzt hofft er auf einen vernünftigen Kompromiss im | |
„Trilog“, er will, dass überschüssige Lizenzen gelöscht werden. Er bleibt | |
halber Optimist: Die Preise für die Lizenzen würden ab 2025 steigen – | |
„allerdings nicht so sehr, wie es für echten Klimaschutz nötig wäre“. | |
Der Drache kann dann ein bisschen fauchen und schnappen, mehr nicht. Aber | |
die Zähmung des Ungeheuers kommt vielen recht. Denn er wird noch für andere | |
Aufgaben gebraucht. | |
Wenn die Ziele des Pariser Klimaabkommens umgesetzt werden sollen, muss die | |
Chemieindustrie langfristig ihre Produktion umstellen. Gerade beginnt der | |
Kampf um die Chemie der Zukunft. Eine Chemie, die nicht auf Erdöl beruht. | |
Die „Dekarbonisierung“, der Abschied von Öl, Kohle und Gas, bedroht die | |
Chemieindustrie noch stärker als die Kraftwerke. Denn Kohlestrom kann man | |
relativ einfach durch Ökostrom ersetzen. Bei Naphtha ist das schwieriger. | |
## Autoreifen und Farben aus Pflanzen | |
Naphtha ist Rohbenzin, der leichteste Stoff, der in der Raffinerie aus | |
Rohöl entsteht. Farblos bis rotbraun, riecht es nach Tankstelle. Für BASF | |
ist es die Knetmasse für die 8.000 Produkte, die den Konzern zum Global | |
Player machen. Naphtha landet in Ludwigshafen per Tankschiff und Pipeline | |
vom Ölhafen Rotterdam oder vom Mittelmeer. Es fließt in den „Steamcracker�… | |
eine riesige Fabrik aus Rohren, Kesseln, Tanks und Boilern. | |
Dort werden die Kohlenstoffmoleküle durch Hitze und Druck zerlegt und zu | |
allen möglichen Wunderstoffen neu zusammengesetzt. Zum Beispiel entstehen | |
zusammen mit Pyrolysebenzin Ethylen und Benzol. Über die Ethylbenzolanlage, | |
Styrolfabrik und Polystyrolfabrik wird Polystyrol erzeugt: der Grundstoff | |
für Wärmedämmung an Häusern, das gute Gewissen der BASF im Klimaschutz. Was | |
an Energie bei der Produktion verbraucht wird, werde durch die Einsparungen | |
bei gedämmten Häusern mehrfach eingespart, heißt es. | |
„Dekarbonisierung“ hieße auch, Abschied zu nehmen von Naphtha. Könnte man | |
Autoreifen und Farben auch aus Pflanzen herstellen? „Möglich wäre das | |
natürlich“, sagt Weber. „Realistisch betrachtet werden wir noch Jahrzehnte | |
fossile Rohstoffe einsetzen. Aber den Chemikern ist es prinzipiell egal, ob | |
sie den nötigen Kohlenstoff aus Öl, Holz oder CO2 und Wasser destillieren“. | |
Das aber bräuchte vielleicht fünfmal so viel Strom wie heute, wenn man | |
Hitze und Dampf nicht mehr mit Gas erzeugen könne. Wolle man Klimaschutz, | |
müsse das mit Ökostrom gemacht werden – schwierig und teuer. Wenn diese | |
Umstellung nicht global betrieben werde, so Webers Einschätzung, müsse sie | |
der Staat fördern. Wie? „Der Emissionshandel muss ja nicht eine Belastung | |
für uns bedeuten, er kann uns ja auch entlasten, wenn darüber die | |
Unterstützung verteilt wird.“ | |
## Viele Umweltschützer zweifeln | |
Weber zielt auf die EU-Töpfe für Modernisierung. Die EU verteilt jährlich | |
etwa 200 Millionen Euro, die aus der Versteigerung der CO2-Lizenzen | |
stammen. Davon könne man die Forschung zu einer Chemieindustrie ohne Gas | |
und Öl doch unterstützen. Subventionen für eine grüne Industrie, damit | |
könnten sogar die Umweltschützer leben. | |
Aber damit gäbe die EU einen Grundsatz der Umweltpolitik auf: Der | |
Verschmutzer soll zahlen. Viele Umweltschützer zweifeln außerdem, ob es die | |
Chemiebranche ernst meint mit dem Klimaschutz. Der europäische | |
Chemieverband Cefic schreibt in einem internen Papier, man könne die | |
Emissionen bis 2050 nur um 15 Prozent gegenüber 2010 verringern. | |
Dekarbonisierung sieht anders aus. Der kleine, dicke Drache wird also nicht | |
ernst genommen. | |
Für Georg Zachmann, Ökonom des Thinktanks Bruegel in Brüssel, bezweifelt | |
die Wirtschaft, dass im Emissionshandel jemals wirksame Preise erzielt | |
werden. Aber was passiert, wenn nach 2030 die Emissionen drastisch sinken | |
müssen – werden die Lizenzen dann verknappt und damit wertvoll? „Daran | |
glaubt eben niemand“, seufzt Zachmann. „Dann wird die Politik wieder vor | |
der Wirtschaft einknicken und irgendwelche Ausnahmen schaffen.“ | |
Immerhin ist der Emissionshandel global sehr hilfreich. Als Vorbild und als | |
abschreckendes Beispiel. China oder Kalifornien etwa experimentieren mit | |
Systemen zum Emissionshandel. „Wir lernen aus euren Fehlern“, sagt die | |
Chefin des Emissionshandels in Kalifornien. Wie viel es da noch zu lernen | |
gibt, wird sich bald entscheiden. Für die endgültige Abstimmung über den | |
„Trilog“-Kompromiss haben die Umweltminister der EU bereits einen Termin im | |
Oktober gefunden: Freitag, der 13. | |
13 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
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