# taz.de -- Essay zur Zukunft der EU: Der Europäische Frühling ist nah | |
> Die EU ist wieder beliebter – nicht trotz, sondern wegen Brexit und | |
> Trump. Und ein neuer Hoffnungsträger ist aufgetaucht. | |
Bild: Alle europäischen Kräfte müssen sich zusammenschließen und die EU ern… | |
Wer das Kartenhaus Europa schon einstürzen sah, mag Hoffnung schöpfen: Die | |
EU-feindliche Stimmung ebbt ab, in den meisten Ländern stößt die Union | |
heute auf mehr Zustimmung als vor einem Jahr. | |
Demoskopen führen diese Entwicklung auf die Wahrnehmung des Brexit zurück. | |
Anders als befürchtet und von vielen nationalistischen Großmäulern | |
angekündigt hat er andernorts die Exit-Neigung nicht gestärkt und | |
beschleunigt. Vielmehr hat das unwürdige und stümperhafte Schauspiel, das | |
die Leave-Campaigner Nigel Farage und Boris Johnson gaben und nun die | |
Regierung von Theresa May aufführt, Bedenken gegen einen Austritt | |
verstärkt. Einen solchen kann man zwar forsch fordern, die Realisierung ist | |
aber extrem mühsam und birgt gewaltige Unwägbarkeiten in sich. Ob May einen | |
realistischen Plan hat, muss sich auch nach ihrer [1][Grundsatzrede] erst | |
noch zeigen. | |
Viele austrittswillige Engländer begreifen, dass sie sich in den Fuß | |
geschossen haben: Erst haben sie sich von Scharlatanen dreist belügen | |
lassen, nun geht ihnen allmählich auf, dass ihr Bauchvotum nicht nur das | |
Vereinigte Königreich, seine Regionen und Generationen spaltet, sondern | |
auch ihre eigene Zukunft aufs Spiel setzt. | |
Eine ähnliche Wirkung dürfte die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der | |
Vereinigten Staaten zeitigen. Von ihm wurde bisweilen erwartet, er würde | |
mit seinem Überraschungserfolg europäischen Nationalisten Auftrieb geben, | |
zumal seine Positionen dem europäischen Faschismus viel näher stehen als | |
dem US-amerikanischen Konservatismus und Populismus. | |
Doch statt hiesigen Nationalisten Auftrieb zu geben, löst die Eroberung | |
des Weißen Hauses durch seinen Clan in Europa Befürchtungen aus. Aus gutem | |
Grund, und so wächst das Risikobewusstsein gegenüber Hasardeuren wie dem | |
bedrohlich-fulminanten President-elect, dessen Regierungshandeln ein | |
einziges Chaos zu werden droht. Er setzt die Architektur der westlichen | |
Bündnisse aufs Spiel und damit die Sicherheitsinteressen der Europäer. Er | |
verordnet der Weltwirtschaft eine riskante Rosskur, und wie auch immer er | |
sich zu Putin positioniert, als Buddy oder Opponent, es wird für die EU | |
nicht gut sein. | |
## Ein Blick in die Niederlande und nach Frankreich | |
Auch in anderen rechtspopulistischen Strömungen gibt es politische | |
Unternehmer, deren Projekte pleiteanfällig sind. Aber unter ihren | |
potenziellen Wählern sind eben auch ordnungsliebende Menschen, für die der | |
Euro noch hundert Cent hat. Was ebenso zu größerer Vorsicht bei der | |
Stimmabgabe führen könnte, ist der Angriff machtgieriger Autokraten wie | |
Viktor Orbán, Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan auf die Fundamente | |
ihrer Gesellschaften. Gerade für die Mittelschichten muss auch diese | |
selbstzerstörerische Willkür abschreckend sein. | |
Schauen wir genauer auf jene Rechtsparteien in Europa, die in den nächsten | |
Monaten an die Macht drängen: Geert Wilders möchte bei den Wahlen in den | |
Niederlanden im März seine Freiheitspartei PVV zur stärksten Fraktion in | |
Den Haag machen, Marine Le Pen will im Mai in den Élysée-Palast einziehen. | |
Niemand sollte unterschätzen, was ihr Erfolg in zwei Gründungs- und | |
Kernländern für die Zukunft der Europäischen Union bedeuten würde. Die PVV | |
liegt in (unsicheren) Umfragen vorn und könnte 35 von 150 Sitze erringen, | |
was Ausdruck einer beachtlichen Islamfurcht in den Niederlanden ist, aber | |
keine Basis für eine Regierungsübernahme. Und es reicht erst recht nicht | |
für den Nexit, der sich nach der Volksabstimmung gegen das | |
EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine im April 2016 anzukündigen schien. | |
In Frankreich spricht auch nicht mehr viel für den Erfolg eines Frexit, | |
denn es scheint, als sei die Institution Europa am Ende doch stärker als | |
die Protestenergie der Antieuropäerin. Marine Le Pen ist angesichts des | |
Brexit bereits deutlich zurückgerudert; immer noch will sie den Euro | |
abschaffen, spricht aber nun von seinem Vorläufer „Ecu“. Über zwei Drittel | |
der Franzosen möchten EU-Mitglied bleiben, mehr als noch im letzten Jahr. | |
Offensichtlich plant der Front National nun, in der EU nach der Methode | |
Margaret Thatchers am Verhandlungstisch bessere Bedingungen zu erzielen. | |
Die großen Sympathien von Le Pen wie Fillon für Russland sind davon | |
unbenommen. | |
In Frankreich zeigt sich nun auch, wie wichtig das Auftreten eines | |
dezidiert proeuropäischen Gegenspielers ist, der dort in Gestalt von | |
Emmanuel Macron aufgetaucht ist. In Umfragen liegt der Sozialliberale | |
derzeit auf Rang drei hinter den Kandidaten der Rechten, Fillon und Le Pen, | |
aber nicht abgeschlagen. Der erste Wahlgang findet Ende April statt – in | |
der Politik eine Ewigkeit –, und Macron holt spürbar auf und wird | |
lagerübergreifend zu einem veritablen Hoffnungsträger. Er präsentiert nicht | |
nur ein konsequent supranationales Programm für Frankreich, er hat auch | |
frische Argumente, eine anschauliche Sprache und eine entschiedene | |
Körpersprache – alles, was François Hollande zuletzt abging und man bei | |
fast allen Sozialdemokraten in Europa vermisst. | |
## Über 80 Prozent der Deutschen wollen die EU | |
Damit sind wir bei der überfälligen Gegenoffensive. Bundeskanzler Christian | |
Kern hat es Macron kürzlich in einer Rede nachzutun versucht, als er für | |
ein grünes (und sicheres) Europa plädierte. In Österreich, als Einfallstor | |
der Antieuropäer angesehen, hat das Rennen gegen die Freiheitlichen kein | |
Sozialdemokrat, sondern bekanntlich ein dezidiert europäischer Grüner | |
gewonnen – zwei Drittel der Wähler haben Alexander van der Bellen im | |
Dezember 2016 gewählt, weil er so entschieden in der EU bleiben will. | |
In Deutschland hat die AfD mit ihrer ohnehin schwammigen Distanzierung von | |
Brüssel erst recht keinen Erfolg – heute sind über 80 Prozent der Deutschen | |
für den Verbleib in der EU, vor zwei Jahren waren es weniger als zwei | |
Drittel. Die AfD muss wohl einsehen, dass sie nicht für „das“ Volk sprechen | |
kann. | |
Auch nicht Beppe Grillo, Chef der Fünf-Sterne-Bewegung, für Italien: Er hat | |
demonstriert, dass der Opportunismus bei den Nationalisten im Zweifel sehr | |
viel stärker ist als die weltanschauliche Gegnerschaft zur EU und der | |
Wunsch nach ihrer Zerstörung. Nach seinem gescheiterten Versuch, beim | |
liberalen Proeuropäer Guy Verhofstadt anzudocken, ist er reumütig zu den | |
EU-Verneinern um Nigel Farage zurückgekehrt. Diese Eskapade dürfte der | |
Anfang vom Ende des überschätzten Politclowns sein. | |
Entwarnung kann freilich nicht gegeben werden. Noch ist kein europäischer | |
Frühling eingekehrt, die völkisch-autoritäre Rechte ist kein Papiertiger, | |
und sie fängt viele Energien gegen Europa auf, die beispielsweise | |
Kommissare wie Günther Oettinger in ihrer Arroganz täglich nähren. | |
Besonders beunruhigend ist dabei, dass Marine Le Pen die Hälfte der | |
französischen Arbeiter hinter sich weiß. | |
Auch bleibt den doppelt Frustrierten, die sich erst vom Establishment | |
getäuscht fühlten und nun von den neuen Volkstribunen enttäuscht werden, | |
für die Abfuhr ihrer Wut aus ihrer Sicht nichts als blanker Fremdenhass, | |
der in England erschreckende Ausmaße angenommen hat, ebenso in Polen, und | |
Deutschland ist bekanntlich davon nicht ausgenommen. | |
## Ein Licht am Ende des Tunnels | |
All das ist Anstoß genug, sich wieder stärker für die Europäische Union zu | |
engagieren und ihre Grundsätze und Vorteile selbstbewusster und offensiver | |
zu benennen. Emmanuel Macron ist insofern nicht nur ein französischer | |
Hoffnungsträger, sondern ein Licht am Ende des Tunnels für ganz Europa. | |
Auch in Deutschland sollte sein Weg aufmerksam verfolgt und als belebendes | |
Element deutscher Innenpolitik gestützt werden. Er vor allem würde die | |
deutsch-französische Allianz bewahren und erneuern, und er könnte es auf | |
eine Weise tun, die zugleich aus den in beiden Ländern steril gewordenen | |
Rechts-links-Konfrontationen heraushilft. | |
Denn nicht nur der Konsens über die Normen und Institutionen Europas ist | |
mehrheitsfähig, auch die Prinzipien von Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und | |
Teilhabe, die im Übrigen, anders als es die Antieuropäer unterstellen, nur | |
noch in europäischer und globaler Kooperation zu haben sind. Diese | |
Erneuerungsallianz ist keine Staatsangelegenheit in Berlin und Paris und | |
kein exklusives Kleineuropa. Sie wird nur blühen, wenn alle europäischen | |
Kräfte sich so eng zusammenschließen wie in der Gründungsphase der | |
Europäischen Gemeinschaft. Dann kann aus dieser „Praxis Europa“ gegen alle | |
Erwartungen eine Neugründung Europas erwachsen. | |
17 Jan 2017 | |
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## AUTOREN | |
Claus Leggewie | |
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