| # taz.de -- Schlittschuhlaufen in den Niederlanden: Endlich Frost | |
| > Wie ist das, wenn in einem schlittschuhversessenen Land das Eis wegen des | |
| > Klimawandels weniger wird? Chronik einer seltenen Kälteperiode. | |
| Bild: Verrückt auf Eis: Johan Grootveld, Jan de Schipper und Cees van Zwieten … | |
| Rotterdam ta |z Schneeregen. Schwer klatscht es auf die Außenwand der | |
| Schlittschuhbahn, eines von weißem Kunststoff umhüllten Ovals am Rand von | |
| Rotterdam. Zu warm, zu nass: Das neue Jahr begann, wie das alte aufhörte. | |
| Die Bahn ist gut besucht an diesem Freitagmorgen. Außen drehen die | |
| Gelegenheitsläufer ihre Runden, innen die Erfahrenen. Distinktionsmerkmal: | |
| die dynamische Bückhaltung, ein Arm angewinkelt, den anderen entspannt auf | |
| dem Rücken, statt damit zu rudern. Cees van Zwieten gehört zu Letzteren. | |
| Nach jeder Runde blickt er auf die Uhr, dann verschwindet er in der Kurve. | |
| Wenig später, als die Eismaschine die Bahn auf Hochglanz bringt, sitzt Cees | |
| van Zwieten in einem Aufenthaltsraum vor dem Ofen. Die | |
| Schlittschuhliebhaber im Land kennen den 70-Jährigen, der eigentlich | |
| Pianist ist, als Verfasser des „Winter-Bulletin“. Seit fast 20 Jahren | |
| veröffentlicht er im Internet spezielle Eisvorhersagen, in der Saison | |
| einmal wöchentlich, bei Chancen auf „Natureis“, wie man hier sagt, täglic… | |
| Trotz des Schneeregens ist Cees van Zwieten guter Dinge. „Nächste Woche | |
| wird es frieren. Auch tagsüber geht es nicht mehr über null Grad, und der | |
| Niederschlag nimmt ab. Das ist wichtig, damit nicht gleich eine Ladung | |
| Schnee auf das Eis kommt.“ | |
| In den Augen des Wettermanns leuchtet die Leidenschaft für das Gleiten auf | |
| Kufen. In den letzten drei Wintern konnten van Zwieten sowie hunderttausend | |
| Eisverrückte ihr nur in der Halle frönen. | |
| Schaatsen, wie man das Schlittschuhlaufen hier nennt, lernten Generationen | |
| von Niederländern im Kleinkindalter. Nicht aus einer Entscheidung heraus, | |
| wie für einen Hockey- oder Judoclub, eher automatisch, als Summe der | |
| topografischen Zutaten: flaches Land plus viel Wasser plus Frost gleich | |
| Gleitkultur. | |
| „Gibt es mal wieder eine richtige Periode mit Natureis für uns, | |
| schmachtende Glaziophile?“, so begann Cees van Zwieten einen seiner letzten | |
| Bulletins. Der Einfluss des Klimawandels auf das Eislaufen ist bereits | |
| deutlich spürbar. „Die Winter haben nicht mehr die Kraft der 1960er, 70er | |
| oder 80er Jahre. Es gibt immer mehr Kunsteisbahnen und lange | |
| Schlittschuhtouren auf Kunsteis.“ | |
| ## Ob es überhaupt noch passiert? | |
| Der legendärste dieser Wettbewerbe trägt den Namen Elfstedentocht – 200 | |
| Kilometer entlang von elf Städten in der nördlichen Provinz Friesland. | |
| Bedingung dafür ist eine durchgehende Eisdecke von mindestens 16 | |
| Zentimetern Dicke. Nur in diesem Fall verkündet die traditionsreiche | |
| Vereinigung der „friesischen elf Städte“, dass die Tour stattfindet. Doch | |
| schon sobald es in den Niederlanden ein paar Tage friert, stellt sich | |
| „Elf-Steden-Fieber“ ein: bei Eisläufern, in den Medien und selbst in | |
| Gesprächen über das Wetter taucht die Frage auf, ob es womöglich dieses | |
| Jahr passiert. Oder ob es nach den warmen Wintern überhaupt noch passiert. | |
| Zwei Freunde des Wettermanns gesellen sich an den Tisch, beide Mitte 60, | |
| beide mit strahlenden Gesichtern: Johan Grootveld, der ein Architekturbüro | |
| hat und Geschichten über Natureis-Wettbewerbe verfasst, und der | |
| Naturkundelehrer Jan de Schipper. Letzterer ließ sich einst in einen | |
| Arbeitsvertrag schreiben, dass er drei Tage freinehmen könne, sollte es zu | |
| einer Elfstedentocht kommen. Als sie vor 20 Jahren zum letzten Mal | |
| stattfand, lief er mit. Beim nächsten Mal, so viel ist sicher, wollen Cees, | |
| Jan und Johan dabei sein. | |
| ## Die Eisvorhersage stimmt | |
| Um die Zukunft ihres Lieblingssports sorgen sie sich nur bedingt. „Auch | |
| wenn es weniger Natureis gibt: Das Schlittschuhlaufen sitzt zu tief in der | |
| Kultur, um zu verschwinden“, sagt Johan, der Architekt. „Ein guter Winter | |
| kann wieder einen Boom auslösen“, pflichtet Lehrer Jan bei. Und Wettermann | |
| Cees: „Eher sehe ich die Niederlande im Meer versinken, als dass wir | |
| aufhören, Schlittschuh zu laufen.“ | |
| Seine Eisvorhersage trifft vorerst zu. Am Wochenende beruhigt sich das | |
| Wetter, und die Temperatur sinkt. Es folgt der erste Eistag: einer, an dem | |
| das Thermometer nicht über null Grad steigt. Medien rücken ihren Fokus auf | |
| die Eisentwicklung, auf Websites können schlittschuhtaugliche Gebiete | |
| markiert werden, und dann wetteifern drei Kandidaten darum, an welchem Ort | |
| der erste Marathon auf Natureis stattfinden kann. Das sicherste Indiz des | |
| Eisfiebers ist die Onlineverkaufsplattfom marktplaats, überaus beliebt in | |
| diesem Land der Schnäppchenjäger: Wo sonst täglich 850 Paar Schlittschuhe | |
| angeboten werden, sind es nun 6.000. | |
| Mittwochs präsentiert sich der Norden des Landes mit einer weißen Schicht | |
| überzogen. Es ist ein wenig diesig und hat leicht geschneit in der Nacht. | |
| Winterentwöhnte Augen könnten das fast schon märchenhaft finden, doch für | |
| Schlittschuhliebhaber ist das Bild getrübt: Neben gefrorenen Wasserflächen | |
| gibt es viele offene, und die Meteorologen sagen für bald wieder | |
| Temperaturen über null voraus. Auch Cees van Zwieten hat seine Prognose | |
| korrigiert: „Die Anfuhr von Kälte ist weniger als erwartet“, schreibt er. | |
| „Schlittschuhlaufen hängt sehr von der Region ab.“ | |
| Immerhin findet an diesem Morgen in der Nähe von Groningen der erste | |
| Natureis-Marathon statt. Wie aber sieht es im Schlittschuhmekka aus, in | |
| Friesland, und wie ist es bestellt um die bedrohte Gleitkultur? Vor einiger | |
| Zeit schlug der niederländische Eislaufverband Alarm, als er in nur einem | |
| Jahr 15.000 Mitglieder verlor. Manche Medien spekulieren, der Kufenvirus | |
| könne mit dem Natureis verschwinden. Das mag dramatisch formuliert sein, | |
| doch ist seit der letzten Elfstedentocht eine ganze Generation | |
| aufgewachsen, für die Eislaufen vor allem in Hallen stattfindet. | |
| In der friesischen Hauptstadt Leeuwarden dreht Klasina Seinstra an diesem | |
| Vormittag noch eine Runde über das Eis, sie sammelt die Plastikhütchen ein | |
| und wechselt einige Worte mit den anderen Trainern. Die Kinder, denen sie | |
| bis eben Unterricht gab, gehen sich umziehen. Ein historischer Ort ist | |
| dies: In der Elfstedenhalversammeln sich traditionell die vielen Teilnehmer | |
| des Wettstreits, um nach dem Startschuss zwei Kilometer in Schuhen zum Eis | |
| zu laufen, wo sie die Kufen anschnallen. Beim letzten Mal, 1997, gewann | |
| Klasina Seinstra die Frauenkonkurrenz. | |
| ## Abc des Gleitens | |
| Seit letztem Winter kommt sie fünfmal in der Woche zurück an die Stätte | |
| ihres Triumphs, um Unterricht zu geben – vor allem an Grundschüler. „Wir | |
| gehen aktiv auf die Schulen zu, um Klassen einzuladen“, erzählt sie nach | |
| dem Training im Restaurant der Halle. „Den ganzen Winter über haben wir | |
| 6.000 Kinder aus dem ganzen Norden Frieslands, die hier in Blöcken von fünf | |
| Stunden Schlittschuhlaufen lernen.“ Es geht darum ein Kulturgut | |
| weiterzugeben, aber auch Talente für den Spitzensport zu sichten. Dass | |
| Kinder heute weniger vertraut sind mit Eis, steht für Klasina Seinstra | |
| fest. Also legt sie in ihren Kursen Wert auf das kleine Abc des Gleitens. | |
| „Stabil stehen lernen, Haltung von Knien und Knöcheln, Gleichgewicht | |
| halten, Spielchen.“ | |
| Selbst machte Klasina Seinstra ihre ersten Schritte auf Kufen, als sie noch | |
| keine vier war – gemeinsam mit den älteren Schwestern auf dem zugefrorenen | |
| Graben gegenüber ihres Elternhauses. In diesem Winter hatte sie noch kein | |
| Natureis unter den Kufen. „Aber wenn es so weit ist, ist der | |
| Ryptsjerksterpolder die erste Adresse hier.“ | |
| ## Eine wahre Prozession | |
| Besagter Polder liegt zehn Kilometer vor der Stadt. Eine Abzweigung der | |
| stark befahrenen Landstraße Richtung Osten läuft in einen Feldweg aus, und | |
| dort entfaltet sich an diesem Nachmittag mit einem Mal ein Szenario, das an | |
| die Wintergemälde von Hendrick Avercamp aus dem 17. Jahrhundert erinnert: | |
| Eine wahre Prozession zieht mit Taschen und Rucksäcken durch die | |
| reifbedeckten Wiesen zum Rand der Eisfläche. Dort legen sie die | |
| Schlittschuhe an und gleiten los, manche zögerlich wackelnd, andere | |
| dynamisch und elegant. | |
| Rüstige Senioren sind hier, Kinder, Eltern, Jugendliche. Dies ist keine | |
| Versammlung von ein paar Sportlern, sondern ein Volksfest. Man versteht in | |
| diesem Moment, wie sich dieses Puzzle zusammensetzt: das flache Land, das | |
| Wasser, die weiten Abstände zwischen den Dörfern, die auf dem Eis schneller | |
| zurückgelegt werden können – das ist das Fundament des Schlittschuhfiebers. | |
| Im Hintergrund steht, natürlich, eine Mühle. | |
| Jelle Doef und Hessel de Boer trennt noch wenige Meter vom ersehnten Eis. | |
| Eine Woche lang haben die beiden Freunde hoffnungsvoll die Wettervorhersage | |
| verfolgt. Bei der letzten Elfstedentocht war Jelle Doef drei, der | |
| 18-jährige Hessel de Boer noch nicht einmal geboren. Beide studieren in | |
| Leeuwarden Umweltkunde. Uneinig sind sie sich darüber, wie der Klimawandel | |
| ihr geliebtes Eislaufen beeinflusst. „Ich bin mir sicher, dass Natureis | |
| immer seltener wird“, sagt Jelle Doef. „Das ist nicht gesagt“, entgegnet | |
| Hessel de Boer. „Es gibt so viele Faktoren, der Luftdruck, der Golfstrom. | |
| Dass die Durchschnittstemperatur steigt, muss lokal nicht viel bedeuten.“ | |
| Von ihren Studienkollegen wollte übrigens niemand mitkommen. Was dafür | |
| sprechen könnte, dass die junge Generation doch weniger schlittschuhfixiert | |
| ist. „Vielleicht aber kommt es nur daher, dass die meisten in der Stadt | |
| aufwuchsen“, zuckt Jelle Doef die Schultern. Dann verabschieden sie sich | |
| aufs Eis. Schließlich soll es in den nächsten Tagen schon wieder tauen. | |
| 31 Jan 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Tobias Müller | |
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