# taz.de -- EMtaz: Cohn-Bendit über Team France: „Frankreich hat ein Identit… | |
> Er ist der größte Fan des französischen Fußballs. Daniel Cohn-Bendit über | |
> Proteste, Multikulti und die Hoffnung, dass Frankreich den EM-Titel holt. | |
Bild: Mit dem Ball hoch hinaus: Jongleur vor Sacre Coeur in Paris | |
taz: Daniel Cohn-Bendit, Bilder des aktuellen Frankreich erzählen von | |
Agonie, Protest und schlechter Laune. Sie sind Franzose, erklären Sie: Was | |
ist da los? | |
Daniel Cohn-Bendit: Ich würde sagen: Vieles ist über die Ufer getreten, | |
nicht nur in Paris die Seine, was dazu führte, dass die Proteste namens | |
[1][Nuit debout] weggeschwemmt worden sind. Aber klar, es gibt starke | |
soziale Konflikte und soziale Auseinandersetzungen. Die Streiks sind das | |
eine. Und die Bewegung von Nuit debout hat anfangs viele Leute begeistert, | |
nun ist sie teilweise zum Opfer des Wetters, aber auch Opfer der | |
Perspektivlosigkeit der Debatten, die dort stattgefunden haben, geworden. | |
Immer nur zu sagen, man will ’ne andere Welt, reichte eben nicht. | |
Und die Sicherheitsfrage seit den Attacken in Paris? | |
Frankreich lebt seit anderthalb Jahren, seit den Anschlägen auf Charlie | |
Hebdo und den jüdischen Supermarkt, latent in Angst vor Anschlägen. Damit | |
müssen die Franzosen noch eine Zeit lang leben. Doch es gibt natürlich auch | |
das Normale, das Lebendige, ein wenig jedenfalls, wenn man jetzt an | |
Großveranstaltungen wie die Fußball-EM denkt. | |
Wie müssen wir uns diese EM vorstellen: als eine im Hochsicherheitstrakt? | |
Nein, jeden Sonntag finden doch große Sportereignisse in Frankreich statt, | |
und da kann man sich drauf freuen. Es wird ein großes Fußballturnier sein, | |
solange die Sicherheitsdienste in der Lage sind, Anschläge zu verhindern. | |
In Großstädten Europas müssen wir sowieso mit solch einer Gefahr leben. Das | |
ist so, machen wir uns nichts vor. Aber wenn wir weiterleben wollen, werden | |
wir damit leben müssen. | |
Womöglich sagen jetzt manche, das gekaufte Ticket für ein EM-Spiel nicht | |
nutzen zu wollen, weil alles so ungewiss ist. | |
Eines ist sicher: Der Mensch ist ein großer Verdrängungskünstler. Viele | |
sagen, das sei seine Schwäche, aber es ist auch seine Stärke. Man muss sich | |
das nicht so vorstellen, dass jeder jetzt alle fünf Minuten daran denkt: Oh | |
Gott, oh Gott, es könnte was passieren. Nach dem Schock der großen | |
Anschläge Anfang des Jahres hat es etwas gedauert, aber dann hat das Leben | |
einfach wieder überhandgenommen. Gut so! Wenn man solchen Attentaten | |
nachgibt, indem ein jeder sich zurückzieht, dann hat das Leben keinen Sinn | |
mehr. | |
Welchen Sinn meinen Sie? | |
Menschen können nicht ohne Sinn weiterleben. Also wollen sie weiter | |
ausgehen, Zug- oder U-Bahn-fahren, ins Kino gehen, ins Theater, zu | |
Konzerten und, und, und … Ich finde das richtig so. Dieses EM-Turnier wird | |
keines mit angezogener Handbremse sein. Solange nix passiert, wird es | |
Freude bereiten. | |
Nach dem Titelgewinn Frankreichs 1998 haben Sie gejubelt: Das Team sei ein | |
Dokument des multikulturellen Landes – aber dann brach alles auseinander, | |
politisch ist Ihr Frankreich mehr als erschüttert, nicht allein durch den | |
Front National. Wie konnte das so weit kommen? | |
Nun ja, man muss die Dinge so lassen, so erinnern, wie sie waren. Als die | |
Mannschaft Black-Blanc-Beur Frankreich wirklich begeisterte, waren | |
mindestens zwei Millionen Menschen auf den Champs-Élysées vor Glück. Eine | |
Massendemonstration! Alle waren dabei, auch aus den Banlieues, wo man stolz | |
war, Franzosen zu sein. Dass das nicht angehalten hat, hat vielleicht mit | |
der Naivität von solchen Beobachtern wie mir zu tun. Ich hätte es gerne | |
gehabt, dass dieses Zeichen am Leben bleibt. | |
Ein Zeichen wofür? | |
Dass Frankreich wirklich diese Integration der Banlieues, die Veränderung | |
der Verhältnisse, hinkriegt. Aber das war nicht der Fall. Deswegen ist die | |
Enttäuschung umso größer heute, denn wir haben ein gespaltenes Frankreich. | |
Als die [2][Anschläge auf Charlie Hebdo] waren, auf den Hyper Casher, dann | |
auf das Bataclan und die Restaurants, gab es vier Millionen Menschen, die | |
bei der Solidaritätsdemo dabei waren. Und trotzdem waren sie nur ein Teil | |
Frankreichs. Die anderen waren nicht da. Die Segregation ist | |
vorangeschritten. Keine der politischen Parteien, links wie rechts, hat nur | |
im Ansatz die Kraft und die Fantasie, dem wirklich etwas entgegenzusetzen. | |
Könnte man bei der aktuellen französischen Équipe eine Renaissance des | |
multikulturellen Fußballs von 1998 erwarten? | |
Das glaube ich nicht. Man sieht ja die ganze Auseinandersetzung über Karim | |
Benzama und Hatem Ben Arfa, die nicht für das Team nominiert wurden und die | |
nun dem Trainer Rassismus vorwerfen. Frankreich lebt mit einem riesigen | |
Identitätstrauma. Die französische Politik sortiert sich momentan gerade | |
vollkommen um – und es geht immer um Identitätssuche, | |
Identitätsbestätigung, Identitätsverneinung. Und das wird bei einem | |
EM-Turnier – auch wenn Frankreich gewinnt – nicht überwunden werden. | |
Was ist eigentlich genau Teil dieses, wie Sie sagen, Identitätsproblems? | |
Die Globalisierung verunsichert. In einer solchen Verunsicherung wird die | |
Suche nach der eigentlichen Identität, die einem die Möglichkeit gibt, auch | |
in der Globalisierung zu bestehen, verstärkt. Und dann sieht man, dass | |
Franzosen muslimischer Prägung, die in den Banlieues, jedenfalls nicht in | |
den guten Vierteln wohnen, sich nicht dazugehörig fühlen. Und gleichzeitig | |
haben Juden Angst, weil sie fühlen, dass einige wollen, dass sie nicht mehr | |
dazugehören. Die sozial Depravierten fühlen, dass sie keine Chance mehr | |
haben, dazuzugehören. Und deswegen reduziert sich dann diese Wahrnehmung | |
auf eine Stärkung ihrer eigentlichen, ursprünglichen Identität, oder das, | |
was sie dafür halten. Das ist ein bisschen plakativ formuliert, aber in | |
diese Richtung läuft es schon. | |
Sie nehmen den arrivierten Städtern übel, dass sie an so vielem teilhaben | |
können – aber wer aus den Banlieues kommt, dies nicht erreichen kann. | |
Paradox ist doch: Gerade in den Städten wird am meisten Widerstand gegen | |
den aufkommenden Rassismus geleistet. Wie etwa beim Volksentscheid in der | |
Schweiz vor wenigen Monaten: Junge Menschen in Zürich, Genf, Bern und Basel | |
haben gegen die Anti-Ausländer-Gefühle mobilisiert. Auch in Österreich | |
waren es die Städte, [3][die den FPÖ-Präsidentschaftskandidaten verhindert | |
haben]. Man sieht, dass, wenn es Spitz auf Knopf kommt, sind’s eher die | |
Städte, die gegen die Rechten sich stark machen. | |
Sind die Begehrlichkeiten von Menschen aus den Banlieues falsch? | |
Nein. Es gibt eine Angst vor Vernachlässigung. Es sind aber andere, die | |
diese Angst formulieren und dann Front National wählen, es sind andere | |
Gefühle als zum Beispiel jene junger Migranten, die sich ausgeschlossen | |
fühlen. Das sind zwei unterschiedliche Phänomene. | |
Sprechen wir über Rassismus: Hat Karim Benzama Recht, wenn er sagt, er sei | |
aus rassistischen Gründen nicht nominiert worden? | |
Nein. Benzama war der Lieblingsspieler von Trainer Didier Deschamps. Der | |
hatte ihn für die WM vor zwei Jahren nominiert. Danach war Benzama in eine | |
abstruse Sex-Tape-Geschichte verwickelt, an der er, wie auch immer, | |
irgendwie an einem Erpressungsversuch, beteiligt war. Dann war es für | |
Deschamps nicht mehr möglich, ihn zu nominieren. Es gibt eine Stimmung in | |
Frankreich, die ungefähr dies sagt: „So oder so mag ich Benzama nicht. Weil | |
er ein Scheißmuslim oder so ein Ghettogangster ist.“ Es gibt diesen | |
Rassismus in Frankreich, aber der hat mit der Entscheidung von Deschamps, | |
Benzama und Ben Arfa nicht ins Team zu holen, nichts zu tun. Hier sind die | |
Kritiker von Deschamps der Identitätsfrage auf den Leim gegangen. | |
Wie denken Sie über den Fall Michel Platinis. Sie waren mit ihm gut | |
befreundet. | |
Ich find’s schade. Und traurig. Ich mochte ihn. Aber irgendwie hat sich | |
gezeigt, dass das Sein in der Fifa oder wahrscheinlich in der Uefa durch | |
Machenschaften einfach kontaminiert. | |
Wenn Sie ihm nun in Frankreich begegnen würden: Gäben Sie ihm die Hand? | |
Natürlich. Aber jetzt sollten wir ohnehin zur Tagesordnung übergehen, | |
Michel Platini ist jetzt nicht mehr Präsident der Uefa. | |
Wem halten Sie die Daumen? | |
Frankreich. Immer Frankreich. Frankreich wird gewinnen. | |
Bitte? | |
Erstens weil ich immer glaube, dass Frankreich gewinnt. Zweitens, fände | |
ich, nach den vielen Anschlägen, dass es gut für die französische Seele | |
wäre. Drittens würde das bedeuten, dass bei diesem Turnier bis zum Ende | |
nichts passiert ist. Viertens, weil ich finde, dass die Begeisterung, die | |
dann entstehen könnte, in Frankreich endlich das Tor aufreißen würde für | |
den Sommer nach dem ganzen Regen und den Überschwemmungen. Es würde allen | |
gut tun. | |
10 Jun 2016 | |
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## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
Jan Feddersen | |
Ronny Müller | |
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