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# taz.de -- Arbeitskämpfe in Frankreich: Ohne Rücksicht auf Verluste
> Kurz vor der EM in Frankreich ist das Land zutiefst gespalten. Präsident
> Hollande versucht mit allen Mitteln, das Arbeitsrecht aufzuweichen.
Bild: Mit Härte werden die Proteste gegen die Arbeitsreform durchgeführt
Paris taz | Romain D., 28 Jahre alt, liegt seit dem 26. Mai im Koma. Zeugen
berichten, dass es eine Polizeigranate war, die ihn am Ende einer
Kundgebung gegen die Arbeitsmarktreform in Paris traf. Journalisten und
Zuschauer waren mit Videokameras und filmenden Smartphones zugegen.
Nichts kann heute mehr verheimlicht werden – schon gar nicht die Brutalität
entnervter CRS-Ordnungspolizisten, die vorher oft selbst provoziert oder
angegriffen worden sind und ihre Wut an Unschuldigen oder Unbeteiligten
abreagieren.
So sahen die Zuschauer jüngst im Fernsehen auch, wie in Rennes Beamte in
Robocop-Montur wahllos auf fliehende Demonstranten und sogar ganz gezielt
auf Medienleute mit Kameras einschlugen. Viel häufiger zeigen die TV-Bilder
Gruppen Vermummter – im offiziellen Jargon sind das die „Casseurs“
(Randalierer) – Steine, Flaschen oder Molotowcocktails auf die Polizisten
werfen und die Fassaden von Banken und Geschäften oder andere Symbole des
Kapitals und der Konsumgesellschaft demolieren.
Diesen Leuten geht es nicht – oder nicht mehr nur – um eine von der
Regierung als „Reform“ betitelte frontale Attacke auf das Arbeitsrecht,
sondern um die Staatsmacht und ihr Gewaltmonopol.
In Frankreich werden Konflikte ohne Rücksicht auf Verluste und in der
direkten Konfrontation auf der Straße ausgetragen. Das hat eine lange
Tradition. In gewisser Weise ist daher auch die Toleranz für illegale oder
gewaltsame Aktionsformen sehr viel größer als in anderen europäischen
Staaten. Die Legitimität des Widerstands ist fester Bestandteil der
Geschichte. Sie begründet den staatstragenden Mythos der Revolution von
1789 oder auch der Résistance-Bewegung gegen die deutsche Besetzung von
1940–1945.
So ist es bis heute durchaus üblich, dass zornige Bauern Lastwagen mit
Früchten aus Spanien stoppen und die Ladung auskippen. Sie können sicher
sein, dass sie straffrei davonkommen, weil niemand gegen sie ermitteln
wird. Darum jammern und schimpfen Unternehmer und bürgerliche Politiker
vergeblich, wenn Gegner der Gesetzesvorlage Straßen blockieren oder mit
anderen, manchmal sehr punktuellen Aktionen den normalen Gang der
Wirtschaft stören.
Weil die Regierung weiß, wie riskant es ist, am bestehenden System zu
rütteln, hat sie es mit einer Überrumpelungstaktik probiert, um ihre
Arbeitsmarktreform durchzupeitschen. Dabei war François Hollande noch 2012
mit einem betont linken Programm zum Präsidenten gewählt worden Man
erinnert sich daran, wie er sich in Le Bourget von seinen Anhängern für
Attacken auf die Macht der Spekulanten („die Finanzwelt ist mein Feind“)
als Antikapitalist feiern ließ.
In seinem eigenen Lager hat der Präsident für den neuen „pragmatischen“
Kurs keinen Rückhalt. Die Vertreter des linken Flügels des Parti Socialiste
hatten mehrfach angekündigt, dass sie diese zaghafte Wende hin zu liberalen
Reformvorstellungen als Verrat am Parteiprogramm ablehnen. Das hat Hollande
effektiv gezwungen, schon in der ersten Lesung zur „Holzhammermethode“ des
Verfassungsartikels 49.3 Zuflucht zu suchen. Damit kann er die Vorlage im
abgekürzten Verfahren und ohne Votum für angenommen erklären.
## Reizschwelle erreicht
Viele in Frankreich sind über dieses Vorgehen empört. Mit der Verbitterung
stieg auch die Bereitschaft zur Gewalt. Wenn nun auch noch die Fußball-EM
in diese handfeste Auseinandersetzung einbezogen wird, ist allerdings wohl
selbst für manche Franzosen, welche die Streiks und Blockaden bisher für
normal und legitim halten, eine Reizschwelle erreicht.
Der Streit steuert auf eine Entscheidung zu. Die Regierung will stur an
dieser Arbeitsmarktreform festhalten, die den Unternehmen bei der
Gestaltung der Arbeitsbedingungen mehr Flexibilität geben soll. Aus der
Sicht der meisten Gewerkschaften bedeutet dies, dass der Boss über die
Arbeitszeiten und die Bezahlung entscheidet. Damit werden nicht nur sauer
erkämpfte soziale Errungenschaften und Rechte der Arbeiterbewegung infrage
gestellt. Bedroht ist auch das gesamte französische Sozialmodell der
Nachkriegszeit.
Die Zeit drängt, und die Uhr tickt gegen die französische Regierung. Kurz
vor dem Beginn der Fußball-EM 2016 am Freitag zeichnete sich im Konflikt um
die Arbeitsmarktreform in Frankreich noch immer keine Lösung ab. Keine
Seite will oder kann jetzt noch nachgeben.
Die Appelle der Regierung an das Verantwortungsbewusstsein oder an den
Patriotismus verhallen ungehört. Für die Gegner der Liberalisierung des
Arbeitsrechts tönt das sogar wie ein geschmackloser Witz, wenn die
Staatsführung, die mit ihrem Vorgehen für die verfahrene Lage
verantwortlich ist, ihnen so mit Schuldgefühlen kommt.
## Der Druck wird erhöht
Aber darf man eine internationale Sportveranstaltung, zu der
Hunderttausende Besucher erwartet und für die zig Millionen investiert
wurden, als Druckmittel in einem politischen Streit verwenden?
Warum nicht, sagt allen voran die CGT-Gewerkschaft mit ihren rund 600.000
Mitgliedern. Sie fühlt sich aber nicht als Minderheit, weil laut Umfragen
eine Mehrheit von 70 Prozent die Regierungsvorlage ablehnt. Für die CGT
geht es in diesem Kampf um grundlegende Klasseninteressen der Arbeitnehmer
und um ihre eigene Glaubwürdigkeit.
Und überhaupt ist es die Gegenseite, die in diesem Match der Spielverderber
ohne Schiedsrichter mit ihren unfairen Methoden begonnen hat. Ausbaden
müssen das hauptsächlich die anderen, die an diesem Konflikt nicht direkt
teilnehmen, aber seit einer Woche nicht wissen, wie sie wegen der
Verkehrsbehinderungen an den Arbeitsplatz kommen. Ausgerechnet vor dem
EM-Auftakt am Freitag soll in Frankreich eine weitere Woche mit Streiks und
Störaktionen beginnen.
6 Jun 2016
## AUTOREN
Rudolf Balmer
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