# taz.de -- Debatte „Rückkehr nach Reims“: Vom Feuilleton verwurstet | |
> Der französische Soziologe Didier Eribon wird als Welterklärer | |
> missverstanden – und seine Autobiografie für Wahlanalysen missbraucht. | |
Bild: Fasst sich an den Kopf: Didier Eribon | |
„Lügen haben kurze Beine“, sagt der Volksmund – und dass Gerüchte einen | |
langen Atem haben, weiß man seit Plutarch: „Es bleibt immer etwas hängen“ | |
(„semper aliquid haeret“, etwas frei übersetzt). Die Rezeption des | |
Bestsellers „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon in fast allen | |
Feuilletons deutscher Zeitungen ist ein Beispiel für den langen Atem von | |
Gerüchten. | |
Die Feuilletons machten aus der sehr privaten Autobiografie und | |
Familiengeschichte eines jungen Mannes, der gegen familiäre Widerstände und | |
soziale Demütigungen seine Homosexualität leben möchte, ein politisches | |
Buch, das die These begründe, wonach die Wahlerfolge des Front National | |
(FN) auf der Wählerwanderung von der KPF zum populistisch-nationalistischen | |
Front National beruhe. | |
Mit der von Eribon erzählten Familiengeschichte hat das wenig, mit der | |
Familie Le Pen und der Propaganda des FN sehr viel zu tun. Der Vater Jean | |
Marie Le Pen, Gründer der Partei, brachte das Gerücht, der Front National | |
sei die Partei der Arbeiter und Arbeitslosen, schon Ende des letzten | |
Jahrhunderts propagandistisch ins Spiel. | |
Empirische Studien belegen nur, dass zwischen 20 und 30 Prozent der | |
FN-Wähler Arbeiter oder Arbeitslose sind. Der rote Gürtel rund um Paris mit | |
kommunistisch regierten Städten und Gemeinden entstand bereits vor dem | |
Zweiten Weltkrieg und existierte bis in die 70er Jahre. | |
Aber nach 1981, als der Sozialist Mitterrand Präsident geworden war, | |
schrumpfte die Zahl der kommunistisch dominierten Kommunen von 67 auf 41, | |
weil viele kommunistische Wähler sehr unzufrieden waren mit der von ihrer | |
Partei mitgetragenen Politik Mitterrands. Die enttäuschten Wähler wanderten | |
jedoch nicht zum FN ab, sondern zogen sich aus der politischen Arbeit in | |
den kommunistischen Parteizellen zurück und nahmen an Wahlen nicht mehr | |
teil. | |
## Zur Abwanderung gezwungen | |
Zudem verschwanden in den 1980er Jahren allein im Département | |
Seine-Saint-Denis 45 Prozent der industriellen Arbeitsplätze und zwangen | |
qualifizierte Arbeiter und Stammwähler der KPF zur Abwanderung. Nachgerückt | |
sind Einwanderer aus Nordafrika. „Die Banlieue wurde zunehmend zum | |
Sammelbecken der [. . .] prekarisierten Bevölkerungsschichten“, stellte die | |
Sozialwissenschaftlerin Lisa Jandi in ihrer Studie 2006 fest. | |
Der Vater Le Pen benützte wie die Tochter die sozialen Zustände in den | |
Vorstädten und die hohen Kriminalitätsrate für die nationalistische Hetze | |
gegen Immigranten. 1988 wählten im Département Seine-Saint-Denis schon 20 | |
Prozent der Wähler den FN, aber nur noch 13,5 Prozent die KPF. Kommunisten | |
wanderten aber nicht zum FN ab, sondern wurden zu Nichtwählern. | |
Nach den EU-Wahlen von 2014, bei denen der FN landesweit einen Wähleranteil | |
von 25 Prozent erreichte, kamen Kommentatoren ins Hyperventilieren und | |
sprachen vom Vormarsch einer „faschistischen Partei“, die bald zum | |
Durchmarsch antrete. Was war tatsächlich geschehen? | |
## Durchmarsch unwahrscheinlich | |
Durch die geringe Wahlbeteiligung erhöhte sich der prozentuale Anteil des | |
FN und löste Alarmstimmung aus. Dasselbe passierte bei den Regionalwahlen | |
nach dem ersten Wahlgang, als der FN fast 30 Prozent erreichte. Viele | |
Medien sahen die Partei in drei Regionen schon als Sieger. Die | |
Wahlbeteiligung lag bei 50 Prozent, und die Zahl der Nichtwähler übertraf | |
diejenige der FN-Wähler um das Vierfache. Im zweiten Wahlgang stieg die | |
Wahlbeteiligung auf 59 Prozent. Dadurch und durch den Rückzug der | |
Sozialisten in drei Regionen erreichte der FN in keiner einzigen der 13 | |
Regionen eine Mehrheit. | |
Der angeblich bevorstehende Durchmarsch wurde einfach auf die | |
Präsidentschaftswahlen 2017 verschoben. Wahrscheinlicher wird er aber | |
nicht. | |
Entgegen dem Gerücht besteht die Wählerbasis des FN nicht aus Arbeitern, | |
Arbeitslosen und sozial Abgehängten, sondern zu 71 Prozent aus Menschen, | |
die sich zur Mittelschicht zählen. Arbeiter, sozial Abgehängte und | |
Arbeitslose bilden dagegen das wachsende Reservoir der Nichtwähler – | |
besonders in den entindustrialisierten Zentren im Norden und Nordosten des | |
Landes. Die Masse der FN-Wähler wohnt nicht in Städten, sondern auf dem | |
Land und in Kleinstädten unter den durch Kredite „verbürgerlichten“ | |
Einfamilienhausbesitzern – Gegenden, die in Frankreich banlieue | |
pavillonnaire (in etwa „Reihenhaus-Banlieue“) heißen. | |
Bei den Nichtwählern ist der Anteil von Arbeitern bedeutend höher als bei | |
den FN-Wählern. Dass dennoch Arbeiter zum FN abwanderten, ist unbestreitbar | |
und hat vor allem mit dem Niedergang der KPF nach 1989 zu tun, wie die | |
empirisch gestützte Analyse des Politologen Sebastian Chwala („Der Front | |
National“) belegt – und nicht damit, dass KPF-Wähler in großer Zahl zu FN | |
abwanderten. | |
## Welterklärungsthesen | |
Eribons Autobiografie, die übrigens zunächst als Roman angelegt war, | |
beansprucht überhaupt nicht, das Wahlverhalten in seiner Familie auf die | |
französische „Arbeiterklasse“ hochzurechnen. Für solche Spekulationen und | |
Welterklärungsthesen lehnte Eribon sowohl Zuständigkeit als auch | |
Verantwortung entschieden ab: „Hören Sie, ich weiß nicht, was Sie wollen. | |
Ich habe ein Buch über meine Mutter geschrieben, und jetzt soll ich Brexit, | |
Trump und die Welt erklären.“ | |
Er spottete über jene, die ihn zu einem der „klügsten Köpfe Europas“ | |
(Süddeutsche Zeitung), sein Buch „zum Geburtsmoment einer neuen | |
Denkergattung“ (Der Freitag) oder gar zur „neuen Lesart von Linkssein“ | |
(Spiegel Online) hochschrieben. Fazit: Das deutsche Feuilleton verwurstete | |
das Buch zur Erklärung von Trumps Sieg, des Brexit und des Aufstiegs der | |
AfD. | |
Ganz unbeteiligt ist Eribon nicht am Missbrauch seines Buches. Der | |
Genderforscher dekoriert seine Geschichte der „Transformationsprozesse des | |
Selbst“ gern mit sozialwissenschaftlichen Girlanden – etwa einem | |
grobianisch-simplen Determinismus. So kommt er zu der absurden These, | |
Bourdieu sei Soziologe geworden, weil er heterosexuell und bäuerlicher | |
Herkunft gewesen sei – Foucault hingegen wegen seiner Homosexualität und | |
städtisch-bürgerlichen Abstammung zum Philosophen. | |
21 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
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