# taz.de -- Buch „Denn sie sterben jung“: Das Ende der Sorglosigkeit | |
> Ein Clan aus der mexikanischen Oberschicht löst sich auf. Ruíz Camachos | |
> Buch ist ein schonungsloser Blick auf eine von Privilegien verwöhnte | |
> Klasse. | |
Bild: Ein Palast in Mexiko Stadt, hier wohnen allerdings die schönen Künste | |
Seinem Roman „Denn sie sterben jung“ hat Antonio Ruiz Camacho den Stammbaum | |
der Familie Arteaga und ihrer Hausangestellten vorangestellt. Der 1973 in | |
Toluca, Mexiko geborene Schriftsteller erzählt in acht Episoden vom Ende | |
der Sorglosigkeit einer bürgerlichen Großfamilie in Mexiko Stadt. Als das | |
Familienoberhaupt José Victoriano Arteaga gekidnappt wird, verlässt die | |
nachfolgende Generation aus Angst vor weiteren Entführungen fluchtartig das | |
Land, nach Spanien und in die USA. | |
In einzelnen Kurzgeschichten, die sich zu einer facettenreichen | |
Gesamterzählung zusammenfügen, verhandelt der Autor in Momentaufnahmen das | |
Schicksal von Familienangehörigen, Bediensteten und der Geliebten des | |
Patriarchen. Vor dem Hintergrund seines gewaltsamen Todes entsteht aus den | |
verschiedenen Perspektiven ein vielstimmiges, ganz und gar disharmonisches | |
Familien- und Gesellschaftsporträt. | |
Ruíz Camacho arbeitete zunächst als Journalist in Mexiko, bevor er in die | |
USA auswanderte. Heute lebt er in Austin, Texas. Sein nun in deutscher | |
Übersetzung vorliegendes Romandebüt „Denn sie sterben jung“ (original | |
„Barfoot Dogs“) verfasste der Autor auf Englisch. Aus der in den USA | |
gewonnen Distanz entwickelt er einen schonungslosen Blick auf eine von | |
Privilegien verwöhnte und von Ignoranz geprägte Klasse in seinem | |
Herkunftsland. Nach der Ermordung erleben seine Protagonisten, auf fremdem | |
Terrain gestrandet, die Auflösung jeder Gewissheit über sich und die Welt | |
um sie herum. | |
Der für die deutsche Ausgabe gewählte Titel und auch der mit Totenköpfen | |
verzierte Einband der deutschen Ausgabe jedoch werden diesem Roman nicht | |
wirklich gerecht. Zu holzschnittartig wirken die für die Vermarktung | |
mexikanischer Literatur gerne verwendete folkloristische Ornamentik mit | |
Anspielung auf Gewalt und organisiertes Verbrechen. Denn besonders | |
bemerkenswert in diesem Erstlingswerk Ruíz Camachos ist die | |
Auseinandersetzung mit der mexikanischen Realität außerhalb Mexikos sowie | |
den damit einhergehenden Transformationen. | |
## Pinkeln als Befreiungsschlag | |
In „Okie“, der zweiten Geschichte des Buches, erlebt der achtjährige Enkel | |
José Victorianos den verstörenden Neuanfang in der Fremde. Er begreift | |
nicht, warum seine Familie aus Mexiko in das sehr viel bescheidenere Haus | |
nach Kalifornien umziehen musste. Auch Josefina, die alte Hausangestellte, | |
seine engste Vertraute, kann es ihm nicht oder will es ihm nicht erklären. | |
Ohnmächtig den Veränderungen in seinem Leben ausgeliefert, verstummt | |
Bernardo in der neuen Schule in Palo Alto zunächst. | |
Doch die bedrängende Fürsorge der Klassenlehrerin Misses Brinkmann und die | |
Ratschläge von Ambrose, seiner recht schroffen Mitschülerin, erweisen sich | |
für den Jungen als unerwartet hilfreich. In einem Befreiungsschlag pinkelt | |
er vor den Augen seiner Mutter der Schwimmlehrerin auf den Kopf. Erst nach | |
dieser „krassen“ Aktion, verrät die Mutter Bernardo bei einem Burger mit | |
Milchshake endlich, warum sie Mexiko verlassen mussten. | |
In einer der letzten Erzählungen verfolgt Ermelinda, die Hausangestellte | |
des einst gefürchteten, ältesten Sprosses der Arteagas, den Zerfallsprozess | |
aufmerksam: „Jetzt stehe ich direkt vor ihm, neben seinem verdreckten, | |
zerwühlten Bett, lausche seinem entgleisten Atem, nicht weit vom Ersticken | |
entfernt, und beobachte anhand seines Untergangs den seiner Familie. | |
Er kann meine Tränen nicht sehen. Und auch mein Gleichmut entgeht ihm.“ | |
25 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Eva-Christina Meier | |
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