# taz.de -- Frankreich auf der Buchmesse: Öffnung zum Intellektuellen | |
> „Frankfurt auf Französisch“ war ein fulminantes Programm über unseren | |
> westlichen Nachbarn – und Europa. Ein Fazit der Buchmesse. | |
Bild: Didier Eribon musste auf der Frankfurter Buchmesse oft erklären, weshalb… | |
FRANKFURT taz | Jean-Christophe Bailly ist aus Protest gleich wieder | |
abgereist. Und Geoffroy de Lagasnerie ist gar nicht erst gekommen. Wegen | |
Emmanuel Macron. „Ich mag diese Events nicht, in denen man sein Land | |
vertritt, und ich möchte nicht Teil des Macron-Systems sein“, schrieb mir | |
Lagasnerie. Diese beiden der französischen Öffentlichkeit sehr gut | |
bekannten Autoren hatte Libération wahrscheinlich nicht vor Augen, als sie | |
schrieb, die französischen Autoren machten gewaltig Eindruck in Frankfurt. | |
Oder Le Monde, in der einer triumphierend verkündete, Deutschland würde | |
Frankreich um seine Autoren beneiden. Von Didier Eribon ganz zu schweigen, | |
den die deutschen Feuilletonisten als schamvollen Schwulen, schillernde | |
Identifikationsfigur und vermeintlichen Front-National-Erklärer liebten, | |
aber als Kritiker des Präsidenten schmähen. | |
Man kann die Kritik dieser Intellektuellen überzogen, auch holzschnittartig | |
und die Abreise gar kindisch finden. Aber die Häme, mit der sie überzogen | |
werden, lässt auch einige Kritiker blöd aussehen: Erst hypen, dann | |
erledigen? Sind das die Regeln ihres Diskurses? Warum nicht einmal | |
nachdenken über die Rolle des Intellektuellen in Frankreich, die man in | |
Deutschland, wo das intellektuelle Leben von den Nazis ausgelöscht und die | |
großen Gesten durch Kleingeistigkeit ersetzt wurden, schon lange nicht mehr | |
versteht. | |
Vielleicht liegt hier auch der tiefere Grund dafür, dass man im | |
frankophilen Teil des deutschen Feuilletons immer gleich „Funken von Geist | |
und Poesie so intensiv“ ([1][Süddeutsche Zeitung]) aus Anlässen sprühen | |
sieht, zu denen einem auch „Air France“ als Metapher einfallen könnte. | |
## It's all about drama | |
Es gibt eine französische Großzügigkeit der Gesten, die vielen in | |
Deutschland nicht einleuchtet. Das weiß man in Frankreich. Und während die | |
Deutschen für historische Momente Wörter wie „Willkommenskultur“ erfinden, | |
um das Ereignishafte rational einzuhegen, zitieren die Franzosen einfach | |
Baudelaire. It’s all about drama. | |
Dazu gehört auch, dass Didier Eribon von Macrons Politik als „große | |
Bedrohung“ für die ganze Zivilisation und der französische Präsident | |
bereits von einem europäischen Bürgerkrieg spricht: „Der europäische | |
Universalismus wird seit zehn Jahren von einem europäischen Bürgerkrieg | |
bedroht.“ | |
Sartre war nun mal Franzose. Das Großsprechen, der Intellektuelle als | |
Erlöser, die nationale Vereinnahmung, die Suche nach der moralischen | |
Instanz und alles, was die wirkmächtige Figur des Intellektuellen in | |
Frankreich geprägt hat, wirkt noch immer irgendwie nach. Dort in den Gesten | |
und in Deutschland, wo man sich gerne bezaubern lässt, in der Bereitschaft | |
zum Verklären. | |
Aber es geht auch andersrum. Während der deutsche Soziologe Hartmut Rosa im | |
Gespräch mit dem Soziologen Didier Fassin fand, die Intellektuellen müssten | |
eine identifizierbare Stimme sein und Deutungsvorschläge machen, erinnerte | |
sein französischer Kollege daran, dass die gesellschaftliche Rolle des | |
Intellektuellen sich längst verändert hat. Er müsse nicht mehr über jedes | |
Thema sprechen. Er, als Soziologe, habe vor allem Verantwortung für seinen | |
Gegenstand zu übernehmen. Er sei bestenfalls eine Instanz, die Neues in den | |
Zeitgeist einfließen lässt, jedoch: nicht ohne Allianzen mit den | |
Intellektuellen aus NGOs, Medien und anderswo. | |
## Die Freundschaft repräsentieren | |
Es hat stets etwas Befremdliches, wenn zwei da sitzen und die | |
deutsch-französische Achse oder die deutsch-französische Freundschaft | |
repräsentieren sollen. Und auch im abstrakten Sprechen über Europa können | |
einem die Podiumsteilnehmer schnell leidtun, weil man das Gefühl hat, ja | |
Gott, denen fällt jetzt halt leider auch nicht so viel ein. | |
Mathias Énard, Träger des Prix Goncourt und des Buchpreises zur | |
Europäischen Verständigung, mahnte völlig zu Recht, das Sprechen über | |
Europa dürfe nicht nur negativ sein. Wie die Philosophin Camille Louis rief | |
er dazu auf, endlich über die politischen Formen innerhalb Europas | |
nachzudenken. Sie seien bisher zugunsten der Ökonomie vernachlässigt | |
worden. Auf den Katalonienkonflikt angesprochen, sagte Énard, der in | |
Barcelona lebt, die Spanier würden nun über ein föderatives Königreich | |
nachdenken. Drohender Bürgerkrieg? Quatsch. | |
Der frankokanadische Comiczeichner Guy Delisle schwärmte von dem Europa | |
ohne Grenzen und fand dennoch: „Wir stehen immer noch am Anfang der | |
utopischen Bewegung.“ Ali Zamir, Autor des Romans „Die Schiffbrüchige“, … | |
dem eine ertrinkende Frau ihr Leben erzählt, sieht in Europa „das Anderswo, | |
das sich auf sich selbst zurückzieht“, während es doch gleichzeitig | |
Antriebskraft für die Öffnung zum Anderen sei. | |
Es ist kein Zufall, dass die Heilung, die Schönheit und der Alltag auf | |
dieser Buchmesse wiederkehrende Diskursteilnehmer waren. Verletzungen sind | |
Öffnungen, mit ihnen kann man mehr sehen. Der Philosoph Frédéric Worms warb | |
im Gespräch mit der ehemaligen Charlie-Hebdo-Zeichnerin Catherine Meurisse | |
für die Arbeit an den menschlichen Beziehungen und eine „Politik der | |
Schönheit, um die zerstörerischen Teile der Politik zu heilen“. Im Auge hat | |
er auch die Phänomenologie der Lebenswelt: Warum müssen in Frankreich die | |
öffentlichen Gebäude so hässlich gestaltet sein? | |
## Gedächtnis des Körpers | |
Zu einem anderen Zeitpunkt am selben Ort erinnerte Patrick Chamoiseau, | |
ebenfalls Träger des Prix Goncourt, daran, „wie die Geste des Tanzes die | |
Menschlichkeit neu strukturiert“ habe. Der erste Widerstandskämpfer gegen | |
die Sklaverei war ein Tänzer, sagte Chamoiseau und sprach über das | |
„Gedächtnis des Körpers“, das auch ein Topos bei Annie Ernaux, Autorin von | |
„Die Jahre“, und Didier Eribon ist. | |
Die Vertriebenen, die Geflüchteten, die Ertrunkenen, die Gefolterten, die | |
Beleidigten, die Geschundenen – es sind die Körper, die das Scheitern des | |
Geistes dokumentieren. Das wird noch einmal deutlich, als Gaël Faye, der | |
sympathische und smarte Rapper, der in seinem gefeierten Debüt „Kleines | |
Land“ ein Kind erzählen lässt und selbst als Kind infolge des Bürgerkriegs | |
aus Burundi flüchtete, sagt: „Die Leichen lagen um uns Kinder herum, wir | |
sahen Ermordungen, aber die Erwachsenen haben nichts gesagt. Und wir | |
durften trotzdem die Ellbogen nicht auf den Tisch packen.“ | |
16 Oct 2017 | |
## LINKS | |
[1] http://www.sueddeutsche.de/kultur/vor-der-buchmesse-die-intellektuellen-der… | |
## AUTOREN | |
Tania Martini | |
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