# taz.de -- Debatte Nachlese der Buchmesse: Kniefall der Politik vor der Litera… | |
> Damit die Buchmesse nicht herzlos wirkt, werden Inseln geschaffen. Auf | |
> ihnen wird literarisch über Politik und politisch über Literatur | |
> gesprochen. | |
Bild: Greifen ineinander wie Rädchen im Getriebe: Politik und Literatur | |
Als Autorin hat man auf einer Buchmesse ungefähr so viel zu suchen wie ein | |
Hochseefischer auf dem Fischmarkt – genau genommen nichts. Es geht ums | |
Geschäft mit der Literatur, nicht um ihr Entstehen und Wirken. Um etwas | |
gegen das herzlos Ökonomische zu setzen, hat die Frankfurter Buchmesse | |
Inseln geschaffen, auf denen höchst prominent literarisch über Politik und | |
politisch über Literatur gesprochen wird und wo sich zeigt, wie diese | |
beiden, nie ganz indifferent zueinander stehenden Wirkungsfelder | |
ineinandergreifen. | |
Die sonntägliche Friedenspreisvergabe ist dafür wohl das prägnanteste | |
Beispiel und zugleich ein Kniefall der politischen haute bourgeoisie vor | |
der sie hinterfragenden und auch mahnenden Literatur. Margaret Atwood, die | |
die Auszeichnung in diesem Jahr entgegennahm, mag durch ihr Werk eine | |
würdige Preisträgerin sein, ihre Rede aber nahm sich etwas enttäuschend | |
aus. Sie sprach von ersten Romanversuchen mit Ameisenhelden und von bösen | |
Wölfen, als würde einem zu Deutschland nicht viel mehr einfallen als Grimms | |
Märchen. | |
Natürlich sagte Atwood nichts Falsches: Ja, die dystopischen Gedanken ihres | |
Romans „Der Report der Magd“ haben sich erschreckend aktualisiert, und ja, | |
die Wahl von Donald Trump ist keine Sternstunde der Demokratie und ja, auch | |
das stimmt, die Märchen der Grimms sind brutal. Alles richtig und nichts | |
ist verkehrt daran, auch mal über Ameisen zu sprechen. Ganz sicher ist es | |
kein Skandal, es ist vermutlich ferner davon, als es die meisten | |
Paulskirchenreden bisher waren. | |
Und doch fehlte eine intellektuelle Tiefenanalyse, die in dem, was schon | |
oft gesagt und geschrieben worden ist, einige Nuancen mehr sichtbar macht. | |
Auch die literarischen Verweise hätten durchaus über Märchenschrecken | |
hinausgehen dürfen und sich vielleicht, wie es Emanuel Macron zur Eröffnung | |
der Buchmesse tat, mit Nerval und Goethe, mit der Frage nach Übersetzung, | |
Verständnismöglichkeiten und der Freundschaft zweier Nationen | |
auseinandersetzen können, die immer auch eine sprachlich verfasste ist. | |
Macrons Euphorie trotz aller Ambivalenzen im historisch sowohl schwer | |
belasteten wie auch schwer beglückten Verhältnis zwischen Frankreich und | |
Deutschland hätte ganz gut in die Paulskirche gepasst. Natürlich weiß | |
Macron seine Zuhörer mit fein austariertem Pathos für sich einzunehmen, | |
vielleicht sogar zu betören und einzuwickeln. | |
## Eribon über Macron | |
„Macron beim Schwadronieren über Europa und dessen Kultur zuzusehen und | |
zuzuhören, wo er – und Merkel – doch im selben Moment pausenlos die | |
Bedingungen für kulturelles Schaffen in Europa zerstören“, das hatte der | |
französische Intellektuelle Didier Eribon in einem Beitrag der Süddeutschen | |
Zeitung konsequent abgelehnt und schon lange vor Macron gewarnt, der mit | |
seinem neoliberalen Kurs eine Marine Le Pen überhaupt erst beflügeln werde. | |
Oui, mais … | |
Wenn man Macron angreifen will, sollte man mithalten können mit jener | |
Ambivalenz, die er in seiner Rede auffächert und tatsächlich zu etwas | |
Optimistischem zu wenden versteht. Macron setzt die Kraft der Übersetzung | |
gegen die reale Dystopie des Krieges und seines Erinnerns. | |
Paul Ricoeur, erzählt er am Ende seiner Rede, habe eine „drôle d’histoire | |
avec l’Allemagne“, eine lustige Geschichte mit Deutschland. Ricoeurs Vater | |
sei im Ersten Weltkrieg gefallen, Paul selbst während des Zweiten | |
Weltkriegs in Kriegsgefangenschaft geraten. Doch statt zu verbittern, habe | |
er ein Buch von Edmund Husserl übersetzt, das er bei sich getragen habe. | |
Diese Geschichte eines Halts im Haltlosen, so knapp Macron sie auch | |
erzählt, berichtet en passant davon, wie Literatur und Philosophie eine | |
Sprache zu sprechen vermögen, die trotz oder auch parallel zu Vernichtung | |
und Krieg ihre Wirklichkeit bewahren, wie sich diese zwei Dimensionen | |
nicht ganz zur Deckung bringen lassen, die eine nicht von der anderen bis | |
zur Gänze zerstört wird, wie trotz aufoktroyierter Feindschaft ein Versuch | |
nach Verständnis lebendig bleibt. | |
Macrons Rede, sosehr sie auch die verbindende Kunst der Übersetzung lobt, | |
ist leider nur auf Französisch zu finden, was kein Problem ist für jene | |
Generation, die weiter zu fördern Macron verspricht und die durch Erasmus | |
und Polylingualität so ganz europäisch geworden ist. Aber Europa ist nicht | |
nur Paris und Berlin, findet nicht nur in den Spitzenunis statt, nicht nur | |
bei jenen, die Macron „ihren“ Präsidenten nennen können, weil sie seine | |
Rede überhaupt erst einmal verstehen. Hier sei Eribon doch tendenziell | |
recht gegeben. | |
## Gruppe 47 | |
Es gab eine dritte Rede, die ich in der Buchmessenwoche hörte, nicht in | |
Frankfurt, sondern im fränkischen Waischenfeld, beim Jubiläum der Gruppe | |
47. Es wäre unlauter, über den ersten, inoffiziellen Abend zu berichten, | |
aber so viel sei erwähnt: In der Begrüßung des Bürgermeisters ging es | |
weniger um Nerval und Goethe, auch nicht um die Gebrüder Grimm oder Günter | |
Grass. | |
Er erzählte von der Beschäftigungssituation, vom Tourismus und von den | |
Grundstückspreisen in der Region, und natürlich kann man sich fragen, was | |
das mit der Gruppe 47 zu tun hat. Doch umgekehrt hat die Gruppe 47 oder | |
weiter gefasst jede Gruppe von Schreibenden, die sich als Ziel setzt, die | |
Gesellschaft literarisch und politisch zu beleuchten, genau damit etwas zu | |
tun, mit dem Beschäftigungsverhältnis und den Grundstückspreisen jenseits | |
von Messehallen. | |
Es gibt Menschen, die nach Paris ziehen wegen der hervorragenden | |
Universitätsseminare zu Husserl und Ricoeur, und es gibt Menschen, die | |
einen Ort in der Provinz wählen, weil der Grundstückspreis dort noch bei 50 | |
Euro pro Quadratmeter liegt. Zwischen diesen beiden Lebensentwürfen zu | |
dolmetschen ist eine der wichtigsten Aufgaben derzeit – nicht nur für | |
Literaten, die über Politik und Politiker, die über Literatur sprechen. | |
Es braucht keinen Krieg, es genügt Bequemlichkeit, um die Übersetzung | |
scheitern zu lassen. Dann kann man zwar weiter das Schöngeistige feiern, es | |
wäre aber nur noch eine hübsche Ausstellungsfläche, eine kleine Insel der | |
Glückseligen in den realen, bösen Märchen. | |
18 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Nora Bossong | |
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