# taz.de -- Deutscher Buchpreis für Kim de l'Horizon: Emphatischer Augenblick | |
> Es war ein bemerkenswerter Auftritt von Kim de l’Horizon bei der | |
> Verleihung des Buchpreises. Diese Dringlichkeit findet sich auch in | |
> „Blutbuch“. | |
Bild: Rasur auf offener Bühne, aus Solidarität mit den Frauen im Iran: Kim de… | |
Diese Buchmessenwoche hat gleich zu Beginn starke Bilder produziert. Kim de | |
l’Horizon bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises mit Schnurrbart und | |
in hoch glamourösem Outfit. Erst der emotionale private Dank an die Mutter, | |
schon das bewegend. Und gleich darauf die politische Aktion der | |
Solidarisierung mit den Frauen, die im Iran um ihre Emanzipation und | |
Freiheit kämpfen: die Kopfrasur auf offener Bühne. | |
Das hat das Zeug, im Gedächtnis zu bleiben. Aber ist das auch mehr als eine | |
gute Performance? Wobei allerdings gegen eine gute Performance schon mal | |
gar nichts zu sagen wäre. Ein Moment, in dem sich die Gegenwart als etwas | |
Wachrüttelndes setzt und gegen die unweigerlichen Routinen so einer | |
Preisverleihung behauptet, war dieser Augenblick auf jeden Fall. | |
Bemerkenswert ist aber vor allem die Verknüpfung von Privatem und | |
Politischem, das gehört auch in dem „Blutbuch“, für das Kim de l’Horizon | |
den Preis bekommen hat, unbedingt zusammen. [1][Es ist zum einen ein sehr | |
privates, stellenweise überaus intimes Buch,] das dem Bewusstsein der sich | |
als nonbinär definierenden Erzählfigur bis in die letzten Winkel nachspürt | |
und auch den körperlichen Empfindungen, etwa beim Sex. | |
Man kommt dieser Erzählfigur streckenweise nahe, sehr nahe. Man taucht beim | |
Lesen geradezu ein in ihre Gedanken und Ängste, Kompliziertheiten und | |
Wahrnehmungen. | |
## Suche nach Traditionen | |
Und gleichzeitig reflektiert die Erzählfigur aber auch stets die | |
Hintergründe für die eigenen Empfindungen und Gedanken und die Widerstände, | |
die einem sich selbstbestimmt anfühlenden Leben entgegenstehen. Exkursionen | |
führen in nationalistische Naturbetrachtungen, die Ästhetik des | |
Landschaftsparks, frühere Geschlechtsverhältnisse, das patriarchalische | |
Selbstverständnis der Vorfahren. Und zugleich geht es um die Suche nach | |
Traditionen, in denen man sich einfinden kann. Für die Erzählfigur sind das | |
vor allem weibliche Traditionen. | |
Den bis dahin zugunsten der männlichen Familienmitglieder verschwiegenen | |
Lebensläufen der Frauen im Familienstammbaum geht das „Blutbuch“ nach. Wie | |
das im Einzelnen geschieht, mag man selbst nachlesen. Auf jeden Fall kommt | |
einem, wenn man es gelesen hat, der Auftritt in Frankfurt eigentlich sehr | |
folgerichtig, ja geradezu zwingend vor. | |
Darauf, dass es in diesem Schreiben um hohe existenzielle Dringlichkeit | |
geht, konnte man vorbereitet sein und darauf, dass es sich dabei aber | |
keineswegs um narzisstische Selbstbespiegelung handelt, auch. Dieses | |
Schreiben verortet sich hoch aufmerksam in den politischen | |
Auseinandersetzungen der Zeit, etwa eben im Freiheitskampf der Iranerinnen. | |
Schnell nach der Verleihung wurde etwa in den sozialen Medien der Verdacht | |
geäußert, hier habe jemand einen Buchpreis für Queerness und | |
Identitätspolitik bekommen. Das ist natürlich allzu billig und nimmt die | |
literarische Expertise der Buchpreisjury zu wenig ernst. Vor allem zielt | |
dieser Verdacht auch an dem literarischen Einsatz dieses Buches vorbei. | |
## Queer ist nicht mehr „anders“ | |
„Wie sehen Texte aus, wenn nicht ein menschliches Mustersubjekt im Zentrum | |
steht und die Welt begnadet ins Förmchen goethet?“, heißt es in dem Buch. | |
Das ist in einer diverser werdenden Gesellschaft, die sich auf geteilte | |
Selbstverständlichkeiten nicht mehr verlassen kann, durchaus eine wichtige | |
Frage, nicht nur, aber eben auch an die Literatur. | |
Insofern transportiert das Schreiben von Kim de l’Horizon tatsächlich etwas | |
Zentrales. Queer ist nicht mehr „anders“. Romane mit Migrationshintergrund | |
sind nicht mehr „Nische“. Bücher mit weiblichen Perspektiven sind nicht | |
mehr „Frauenliteratur“. Popliteratur ist nicht mehr „Pop“ [2][(um kurz … | |
Romane der diesjährigen Shortlist durchzugehen).] Und Bücher mit einem | |
männlichen einsamen Helden, dem sein Leben zerfällt, sind eben nicht mehr | |
der Standard. So formuliert, stimmt es schon, dass | |
Gesellschaftsveränderungen und Literatur sich gerade vermischen – aber war | |
das je anders? | |
Von einem traditionellen Literaturverständnis aus könnte man sagen, dass | |
Kim de l’Horizon auf die gegenwärtige Lage mit Autofiktion und | |
Formzertrümmerung reagiert. Aber das wäre nur die eine Seite. Auf der | |
anderen geht es nämlich auch um die Suche nach einer neuen Form, und da | |
setzt die Erzählfigur auf Techniken, die in der avancierten | |
Literaturtheorie gerade als „tentakuläres Schreiben“ analysiert werden, | |
also als ein nicht mehr zentral sich organisierendes Schreiben in | |
verschiedene Richtungen hin. | |
Und gegen Ende des Buches setzt es, wenn auch mit einiger Vorsicht, | |
jedenfalls auch auf Freundschaften, Beziehungen, auf soziale Einbettungen | |
und politische Bezüge über die Familie hinaus. So wie es Kim de l’Horizon | |
bei der Verleihung des Buchpreises gezeigt hat. | |
18 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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