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# taz.de -- Essay von Lukas Bärfuss: Drahtseilakt über den Abgrund
> „Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben“ heißt der neue Essay von
> Lukas Bärfuss. Darin sinniert der Schweizer über Familie, Armut und
> Zufall.
Bild: Lektüre gleicht einem wilden Ritt: Autor Lukas Bärfuss (hier 2019)
Seinen Nachkommen Schulden zu hinterlassen, war für die alten Römer kein
Problem. Sie schufen sich einfach einen „Necessarius heres“, einen
Zwangserben, wie [1][Lukas Bärfuss] in den Schriften des römischen Juristen
Gaius entdeckt hat. Das war in der Regel ein Sklave, der, ob er wollte oder
nicht, nach dem Tod des Erblassers seine Freiheit bekam, zugleich aber
dessen Erbe antreten musste. Mit der für die Familie schönen Konsequenz,
dass die Nachkommen des Verstorbenen von der „venditio bonorum“, dem
Ehrverlust durch antike Insolvenz, verschont blieben.
Als der [2][Schweizer Autor] selbst seinerzeit das Erbe seines Vaters
antreten sollte, das aus nichts als Schulden bestand, wählte er dagegen den
zeitgemäßen Weg, wie er ein Vierteljahrhundert später schreibt: Er habe
dieses Erbe einfach ausgeschlagen, denn „ich war ja nicht verrückt. Mit
einem Brief an den Regierungsstatthalter teilte ich der Öffentlichkeit mit,
das ich auf alle Ansprüche verzichtete.“ An das damit verbundene Gefühl der
Scham erinnert er sich freilich bis heute. „Es war demütigend, seine
Schulden nicht bedienen zu können. Auch in meiner Gesellschaft, zweitausend
Jahre nach dem lieben Gaius, blieb der Privatkonkurs ein Kainsmal.“
Nur eine alte Bananenkiste mit letzten Lebenszeugnissen blieb Bärfuss
damals von seinem Vater. Und selbst mit ihr habe er nichts zu tun haben
wollen, bekennt Bärfuss in seinem neuen Buch, dem Essay „Vaters Kiste. Eine
Geschichte über das Erben“. Warum nicht, das wird deutlich, als er ihren
Inhalt zu guter Letzt beim Ausmisten der Wohnung doch noch einmal
inspiziert, „mit zugeschnürtem Hals“ und, schließlich ist gerade Pandemie,
bereitgelegten Gummihandschuhen.
## Konfrontation mit der Vergangenheit
Denn der zeitlebens glücklose Vater war das „schwarze Schaf“ der Familie.
Jahrelang saß er sogar im Gefängnis, wegen allerlei Betrügereien; zu einer
richtigen kriminellen Karriere habe ihm aber das Talent gefehlt, glaubt
Bärfuss. Seine Mutter, die damals als Bardame arbeitete, tat alles, um
ihren Sohn von ihrem Ex, dem „zwanghaften Lügner“, fernzuhalten.
Am Ende ließ sie ihren Sohn jedoch selbst im Stich: Mit 15 Jahren bekam
Bärfuss ein Stipendium für eine Volksschullehrerausbildung, Geld, das sein
Leben damals hätte ändern können – und mit dem sich die Mutter auf- und
davonmachte.
So führt die „Examination“ des Kisteninhalts vor allem zu einer
unliebsamen, aber vielleicht überfälligen Konfrontation mit der eigenen
Vergangenheit: Denn der deprimierende Haufen aus vergilbten Mahnungen,
Pfändungsankündigungen und Schreiben vom Konkursrichter an den toten Vater
erinnert den heute 50-Jährigen an den eigenen allzu langen Drahtseilakt
über dem Abgrund, an ein „Leben im Dreck“ als Heranwachsender, zuletzt
sogar auf der Straße, ehe eine Anstellung in einer Berner Buchhandlung es
ihm ermöglichte, seinen Traum von einer Schriftstellerkarriere zu
verwirklichen.
Doch wie wenig gefehlt hat, um auch sein Leben im „Schuldturm“ enden zu
lassen, erkennt der Autor erst heute.
Schon seit einigen Jahren tritt der [3][Büchnerpreisträger von 2019], der
in seinen Romanen und Stücken kaum ein gesellschaftlich heißes Eisen
ausgelassen hat, zunehmend auch als Essayist in Erscheinung (zuletzt „Die
Krone der Schöpfung“, 2020). „Vaters Kiste“ ist Bärfuss’ bislang
persönlichster Text und über weite Strecken berührend zu lesen.
Doch wird auf seinen knapp hundert Seiten die eigene Lebens- und
Familiengeschichte nicht um ihrer selbst willen erinnert. Sie dient dem
Autor nur als Anlass für weit – manchmal zu weit – ausgreifende
Reflexionen: über die Bedeutung von Familie, ein Aufwachsen in Armut unter
den spezifisch Bedingungen in der Schweiz oder die Frage, ob und wie man
dem Zufall der eigenen Herkunft einen Sinn abtrotzen kann.
## Die Angst, weggesperrt zu werden
Das gelingt in der ersten Hälfte des Textes besser als in der zweiten. Etwa
wenn es um die Frage geht, warum seine Mutter stets bemüht war, den Gang
zum Sozialamt zu vermeiden. Dazu war das staatliche schweizerische
Fürsorgesystem der 1970er Jahre noch viel zu sehr vom Gedankengut der
Eugenik, dieser „besonders aggressiven Variante der Herkunftsobsession“,
bestimmt, erinnert Bärfuss.
Als alleinerziehende, in der „Halbwelt“ arbeitende Mutter und dazu noch
Tochter eines Roma-Vaters habe sie stets damit rechnen müssen, zum Wohle
der Schweizer Gesellschaft weggesperrt zu werden.
Leicht verständlich ist daher auch, warum der Autor unter diesen Vorzeichen
selbst zeitlebens der Idee der Herkunft misstraute, dieser „Obsession, sich
über seine Vorfahren zu definieren“. Herkunftserzählungen, so Bärfuss,
seien wenig mehr als zweckdienliche Konstruktionen und hätten in der
Geschichte regelmäßig auf direktem Weg in Ideologien oder kriegsdienliche
Mythologien geführt, siehe Hitlers Germanenkult oder aktuell Putins
Panslawismus.
Umso mehr irritiert es, dass Bärfuss dabei mit keinem Wort auf die heutigen
Debatten über die Identitätspolitik von Minderheiten eingeht, in denen der
Rekurs auf die eigene Herkunft ja gerade dem Empowerment dienen soll.
Wichtige Fragen werden auch in der zweiten Essayhälfte gestellt, etwa die,
warum der Zugang zu Grundbesitz noch immer meist von der Herkunft bestimmt
wird oder die Teilhabe an Bildung oder sozialer Sicherheit von der
richtigen Nationalität. Dennoch gleicht die Lektüre hier zunehmend einem
wilden Ritt.
Mal geht es um Darwin, Wittgenstein oder Kafka, mal um Alternativen zum
Konzept des Privateigentums, die Klimakrise, also die Frage, welches Erbe
auf nachfolgende Generationen zukommt (und zwar ohne die Möglichkeit, es
auszuschlagen), oder sogar um das „kategorielle Denken“ des „vernünftigen
westeuropäischen Menschen“, das offenbar für die meisten Übel der Welt
verantwortlich sein soll. Gerade was Letzteres angeht, würde man gern
wissen, mit welchen Kategorien eigentlich der, sagen wir, vernünftige
asiatische Mensch so denkt.
Eine Überraschung hielt die väterliche Bananenkiste übrigens doch noch für
den Sohn bereit. Nämlich die Erkenntnis, wie einfallsreich sein Vater ein
ums andere Mal seine Vita frisierte, um seinen Gläubigern zu entkommen,
dass er also letztlich ein Geschichtenerzähler war. „Ich will ihm danken
für dieses Erbe und, sobald ich die Papiere wieder in die Kiste gepackt und
die Ziffern der Hölle vergessen habe, ein Glas auf den Reichtum trinken,
den er mir hinterlassen hat, ein Reichtum, der größer wird, je öfter ich
ihn teile.“
24 Nov 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Oliver Pfohlmann
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