| # taz.de -- Die Kunsthalle Basel zeigt Lu Yang: Frage nach der Conditio humana | |
| > Identität so flüssig wie die Kapitalströme: Die Kunsthalle Basel widmet | |
| > Lu Yang aus Shanghai eine Schau, die einer ADHS-Hyperpop-Hölle gleicht. | |
| Bild: Lu Yang, Electromagnetic Brainology, 2017, Installationsansicht, in der K… | |
| Wer Lu Yangs Kunst hören und sehen will, muss knien. Der Weg in den | |
| Videospielabgrund beginnt mit einem festlich geschmückten Sakralraum. | |
| Dessen Altar ist die 5-Kanal-Videoinstallation „Electromagnetic Brainology“ | |
| und dessen Seiten sind abermals von diversen flirrend-klingenden | |
| Videoarbeiten gesäumt, die nur voll wahrnehmen kann, wer sich auf die | |
| bereitgestellten Kniebänke begibt, so wie während einer katholischen Messe. | |
| Die Kunsthalle Basel zeigt „Lu Yang. Vibratory Field“, eine große | |
| Einzelschau des 1985 in Shanghai geborenen Künstlers, der zuletzt zum | |
| Beispiel in Berlin und auf der [1][Kunstbiennale in Venedig] zu sehen war – | |
| oder jetzt in der großen Schau über Kunst und Videospiele der Düsseldorfer | |
| Julia Stoschek Foundation. Die Ausstellung in Basel bietet aber einen | |
| besonders umfassenden Einblick in Yangs Kunst – und der historische Bau tut | |
| den Videoarbeiten gut. | |
| Den ersten Raum des Parcours kann man mit wenig Fantasie tatsächlich für | |
| eine einstige Kapelle halten. Schummrig ist es in der Gaminghalle wie im | |
| Kirchenschiff, und nach einiger Zeit lässt sich in Lu Yangs | |
| ADHS-Hyperpop-Hölle sogar etwas Andächtiges erkennen. | |
| Yangs überbordende Digitalwelten sind stets eingefasst in den sorgfältig | |
| gestalteten realen Raum, aus dem heraus sie in ihre Meta-Universen | |
| entführen. In wilden Stakkati begegnen einem Cyborgs, Götter und Menschen, | |
| oft angelehnt an den Künstler selbst. | |
| Sie erscheinen in ständiger Transformation wie die Kulissen, durch die sie | |
| gejagt werden: Chinoiserie und Gaming-Ästhetik, Kitsch, Artyness, | |
| Satanismus und tibetischer Buddhismus, Techno, Fashionpunk, Neurologie und | |
| Verhaltenstherapie dreschen im Soundgewitter eines nie enden wollenden | |
| Youtube-Videos auf ihr Publikum ein. Derweil wird von einer Off-Stimme | |
| philosophiert über das Sein und das Selbst, Höllenqualen, Bewusstsein, | |
| Wahrnehmung. | |
| ## Teenage Angst, Teenage Schmerz, Teenage Euphoria | |
| Lu Yang zeigt ein ausgesprochenes Interesse an den körperlichen Funktionen | |
| des Menschen, insbesondere seiner Neurologie. Wer steuert wen und was? Als | |
| Mann und Frau hat er sie geschaffen, spottet eine Arbeit über die binären | |
| Geschlechter, während sich im „TMS Exorcism“ die moderne Saga einer | |
| brachialen Psychotherapie mittels Magnettechnik verbirgt. | |
| Teenage Angst, Teenage Schmerz, Teenage Euphoria: Eine herrlich | |
| theatralische, bildgewordene verlängerte Adoleszenzstörung ist das hier. | |
| Zwar soll nun auf Künstlerwunsch das Geburtsdatum keine Rolle mehr spielen. | |
| Aber es ist doch bemerkenswert, dass Yang gut zehn Jahre älter ist als | |
| viele, denen das Zuhause in virtuellen Welten gemeinhin zugeschrieben wird. | |
| Und tatsächlich meint man in dieser Schau den Abschied vom Körper als noch | |
| ebenso sagenhafte Möglichkeit wie unwiederbringliche Verlusterfahrung | |
| erzählt zu bekommen. | |
| Dem Drang, stets flexibler und kommoder zu werden, setzt [2][Lu Yang] das | |
| homöopathische Prinzip entgegen, Gleiches mit Gleichem zu kurieren: Noch | |
| fluider sein! Flüssig wie die Kapitalströme, Datenströme, Plasmaströme, | |
| Hormon- und Blutkreisläufe –äquivalent dazu die Identitäten; Politik, | |
| Religion, Alter, Geschlecht, soziale und ethnische Herkunft. Was bleibt, | |
| ist nur folgerichtig das künstlerische Branding – Persona und Kunst werden | |
| von Yang bewusst in eins gesetzt; vor jeder Schau legt er fest, welches | |
| Gender jeweils in Ausstellungstexten aktuell verwendet werden soll. | |
| ## Weisheit auf Tiktok | |
| Fließende Bewegung stellt auch das Tanzen dar. Wer hin und wieder | |
| Tiktok-Videos schaut, weiß, dass sich hier unfreiwillig manche | |
| Lebensweisheit zwischen den Moves verbergen kann. Bei Lu Yang tanzen | |
| Avatare und Kulissen permanent vor sich hin, um zwischendurch zum Beispiel | |
| tragikomisch das Schopenhauer’sche Dilemma des Menschseins im | |
| Informationszeitalter zu kommentieren. | |
| Das ist die große Überraschung in diesem überwältigenden, lustigen wie | |
| gnadenlos unpolitischen (im realpolitischen Sinne – und daher umso | |
| zwingenderen) Werk: Messerscharfe Beobachtungen, die sich im Augenblick | |
| einer Sekunde manifestieren können. Die selten in Theorie münden, sondern | |
| stets nur weiter durch den Äther gejagt werden wie ein Hyper-Bewusstsein, | |
| das an sich selbst irre geworden ist. | |
| So fragen sie permanent nach der Conditio humana, und zwar wörtlich nach | |
| ihren Bedingungen. Denn vor dem „Bin’s noch ich im virtuellen Raum“ wäre | |
| Grundlegendes zu klären: Ist es noch derselbe Mensch, wenn ihm ein Arm | |
| amputiert wird? Wenn sich sein mentaler Zustand ändert, weil er Medikamente | |
| nimmt, krank wird, in Therapie geht? Gehört zum Ich, was man nur empfindet, | |
| aber nicht am Körper trägt? Und, unausgesprochen: Ist der viel größere | |
| Schrecken nicht schließlich der, dass dies alles gar keine Rolle spielt? | |
| Lu Yang würde Letzteres wohl eher als Chance behaupten. Er hat seinen | |
| Eskapismus als künstlerische Fluchtroute längst gefunden. [3][Zum Avatar] | |
| werdend, ist [4][die nächste Reinkarnation] niemals weit. | |
| 9 Mar 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katharina J. Cichosch | |
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