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# taz.de -- Auftakt der Kunstbiennale in Venedig: Die Welt klammern
> Nicht nur angesichts des Krieges wirkt die 59. Biennale in Venedig
> anachronistisch. Wäre da nicht das vielleicht diagnostische Gespür der
> Kunst.
Bild: Ein Werk der 59. Biennale: Cyborgartige Riesen unter giftmüllgrünem Lic…
Zu jeder Kunstbiennale in Venedig stellen sich Kritiker:innen und
Journalist:innen erneut die Frage, warum man überhaupt noch diese
geradezu altertümliche Weltausstellung betreibt. Überkommen schien lange
das Konzept nationaler Pavillons in einer Welt, in der sich Ländergrenzen
doch zugunsten eines vernetzten Handels auflösen.
Doch 2011, als Roman Abramowitsch für die Biennale mit seiner
115-Meter-Yacht „Luna“ in die Lagunenstadt einfuhr und dabei dem eitlen
Kunstpublikum die Sicht versperrte, da konnte man schon spüren, dass solch
eine Welthandelsgemeinschaft auch ihre Ungeheuer gebiert.
[1][Jeremy Deller hatte in der darauffolgenden Biennale] den Sozialreformer
und Kunstgewerbler Phillip Morris auf den Wänden des britischen Pavillons
gigantenhaft von den Toten wieder auferstehen lassen, der die dreist
herumstehende Yacht des Superreichen einfach weit in die Ferne warf. Um
neue Mythen einer suchenden britischen Gesellschaft ging es Deller 2013.
Welch beängstigende Voraussage der Künstler damals unwissentlich traf: 2016
kam das verheerende Brexit-Votum und heute legt [2][Abramowitschs Yacht
aufgrund der Sanktionen nirgendwo mehr richtig an]. Vor allem ist etwas
anderes Ungeheuerliches eingetreten, was niemand vorhersehen wollte: Es
gibt Krieg in Europa.
## Der russische Pavillon und die Piazza Ucraina
Zur diesjährigen Eröffnung der Biennale ist der russische Pavillon leer,
lediglich ein paar Securities stehen vor dem stummen Zuckerbäcker-Bau.
Kurator und Künstler waren mit Beginn der russischen Aggression in der
Ukraine von der Kunstschau zurückgetreten, noch bevor die Biennale sich
zur russischen Teilnahme positionieren musste.
Nur ein paar Meter entfernt ist nun spontan die Piazza Ucraina eingerichtet
worden. Eine Struktur aus angeflammtem Holz mit einem Berg aus Sandsäcken
davor. Künstler:innen aus den Kriegsgebieten haben dort mit der Wut der
Front ihre Nachrichten auf Postern hinterlassen: „Putin didn’t create
Russians – Russians create Putin“, notiert eine Alevtyna Kakhidze.
Auch der ukrainische Pavillon eröffnet an diesem Samstag: Im Arsenale,
hinter den türkischen und singapurischen Beitrag geradezu abgeschoben, als
würde der Ort des Pavillons die europäische Randlage des Landes
versinnbildlichen, steht die wandhohe Pyramide aus Kupfertrichtern von
Pawlo Makow. Wasser tröpfelt von oben auf die ersten Kelche, bis es sich
über ihre zweiarmigen Ausgüsse auf die gesamten 78 schon quietschgrün
oxidierten Gefäße langsam verteilt wie ein desolates Wasserspiel.
Eine Metapher für Mensch und Natur, sagt der Künstler, ein „Brunnen der
Erschöpfung“, so auch der Titel der Installation. Ko-Kuratorin Maria Lanko
hat die Trichter des in Charkiw lebenden Makow in drei Kisten mit dem
eigenen Auto bis nach Venedig gebracht. Die Tragik dieses Krieges und die
Frage, was angesichts dessen die Kunstschau überhaupt noch soll, dringen
direkt hervor in diese Biennale und versinken dann aber wieder im Rausch
der 58 Länderpavillons und über 1.200 weiteren Künstler:innen der
Hauptausstellung.
## Kunst, Kommerz und Ökologie
Die Kunstbiennale in Venedig ist ambivalent. Sie ist Marketing-Apparat für
Galerien, sie ist Bühne für die Superreichen, Länderpavillons können von
bedenklichen Sponsoren abhängig sein, und ökologisch ist eine Schau mit dem
Anspruch, die Kunst vom ganzen Globus für einen Moment auf die Lagunenstadt
zu bringen, ein Unding.
All das ließ sich mit der Idee einer kommerziell und sozial vernetzten Welt
noch schönreden, doch die realen Kriege, der Klimawandel und auch die noch
immer andauernde Pandemie lassen das Konstrukt allzu deutlich rissig werden
wie die bröckelnden Renaissancefassaden des Schauplatzes.
Aber diese Biennale hat auch etwas zu erzählen. Und zwar tut sie dies viel
deutlicher und einstimmiger als in den vorigen Jahren, vielleicht sogar mit
dem diagnostischen Gespür wie bei Deller, den die Kunst eben haben kann.
Denn in der Hauptausstellung wie auch in vielen der Pavillons geht es um
das Ungeheuerliche, um die Kräfte, die freigesetzt werden, wenn ein als
sicher gedachtes System aus den Fugen gerät, um Stimmen von Minderheiten,
die jetzt laut werden.
## Der deutsche Beitrag
Francis Alys zeigt im belgischen Pavillon das Spiel von Kindern in ruinösen
Städten Mexikos, in zubetonierten Satellitenstädten Chinas und auf den
Autofriedhöfen im Kongo. Dort, wie auch in der Neuadaption des
Ödipus-Mythos von Loukia Alavanou im griechischen Pavillon, liegt stets der
Müll des Westens im Bild.
Und selbst der aus der Reihe fallende, sehr brave Beitrag Maria Eichhorns,
der mit archäologischer Akribie die Gebäudeschichten des Deutschen
Pavillons und damit auch die des Nationalsozialismus freilegt, will
hinterfragen, wer hier die Entscheidungen trifft.
Unter dem Titel „The Milk of Dreams“ versammelte die [3][Hauptkuratorin
Cecilia Alemani] über 1.500 Arbeiten von vornehmlich weiblichen
Künstlerinnen. Gigantische Körperteile, aufbegehrende Tiere, riesige
geisterhafte Tongefäße, Fabelwesen und Ahnenfiguren, Kopulierende und
Gebärende stimmen sich darin zu einem düsteren Weltbrummen ein.
Gleich zu Beginn empfangen einen die Giganten: die meterhohe weibliche
Büste der US-Amerikanerin Simone Leigh, die als erste weibliche
Afroamerikanerin gleichzeitig den Pavillon der USA bespielt, legt sich wie
eine Torwächterin vor die Arsenale. Einerseits Schwarze Frau ohne Augen, in
der Form von Kuppelbauten der Musgun andererseits Wohnstätte, wird sie hier
zur multiplen Schutzherrin.
## Grüner Elefant und Hybridkörper
Im Hauptpavillon der Giardini hingegen blickt einen zunächst der Elefant
von Katharina Fritsch an. Lebensgroß lugt das träge Tier von einem Podest
herab. Katharina Fritsch, die von der Hauptkuratorin gemeinsam mit der
chilenischen Künstlerin Cecilia Vicuña mit dem Goldenen Löwen fürs
Lebenswerk ausgewählt wurde, gibt dem Tier jedoch einen übernatürlichen
grünlichen Teint.
Und hinter diesen zwei Giganten entfaltet sich in beiden Gebäuden ein
regelrechter Stream of the Uncanny. Andra Ursuţas transparente Hybridkörper
aus Bleiglas vereinen Menschliches mit Technik und Müll. Man meint darunter
die Büste einer Aphrodite zu erkennen, deren Helm sich aus Plastikflaschen
zusammentut.
Jesse Homer French zeigt Landschaftsmalereien des Anthropozän. Lieblich
erscheinen die Rehe, die im kontaminierten Waldstück von Tschernobyl
grasen, wohlkomponiert unheimlich ist die Wiese mit einem Feuerstreifen am
Horizont.
Unter einem giftmüllgrünem Licht hausen Sandra Mujingas cyborgartige
Riesen, deren Kleidung aus recyltem Stofffetzen vielmehr aus einem
postapokalyptischen Schutt zusammengeklaubt zu sein scheinen. Und Marianna
Simnett lässt in einer fantastisch abstrusen Filminszenierung das von der
Massentierhaltung gebeutelte Schwein aufbegehren.
## Verstaubter Surrealismus?
Als Cecilia Ameliani nach ihrer Ernennung zur Hauptkuratorin das etwas
verstaubte Thema des Surrealismus zum Zentrum ihrer Ausstellung machen
wollte – titelgebend sind die fantastischen Kindermärchen von Leonora
Carrington aus den fünfziger Jahren –, da war noch nicht einmal die
Pandemie eingetreten.
Jetzt ist die Wiederbetrachtung einer Kunst, die zwischen zwei Weltkriegen
entstand und bereits das Unbehagen dieser Zeit erfasste, schmerzhaft
aktuell. Punktuell tauchen in dieser Ausstellung historische Arbeiten auf,
in denen Künstler:innen schon in der Vergangenheit zu erfassen
versuchen, was passiert, wenn die Weltgeschehnisse entgleisen.
Vera Molnár lässt in ihren frühen computergenerierten Zeichnungen aus den
1970er Jahren ein Sinnbild stehen: Sie wiederholte ein Quadrat und damit
die klarste geometrische Figur überhaupt, dessen Konturen aber mit der
Wiederholung immer wackliger wurden. Nichts scheint hier sicher.
22 Apr 2022
## LINKS
[1] /55-Biennale-von-Venedig/!5066292
[2] /Sanktionen-gegen-Oligarchen/!5838131
[3] /Interviewband-The-Future-of-the-Museum/!5744627
## AUTOREN
Sophie Jung
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