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# taz.de -- Surrealismus und Antifaschismus: Unter der Schablone wächst es wild
> Was kommt raus, wenn die Kunst des Surrealismus als politische Bewegung
> gedeutet wird, wie es jetzt das Lenbachhaus München in einer Ausstellung
> tut?
Bild: Lee Miller: „Explosion zollt verdienten Tribut an das Gas Light & Coke …
Für viele ist der Surrealismus wohl eher ein kitsch-ästhetisches
Psychedelikum, wenn man etwa an Salvador Dalís Taschenuhren denkt, die auf
seinen Bildern in irritierenden Landschaften wegschmelzen wie eine Scheibe
erhitzter Raclettekäse. Da mag die Ausstellung „Aber hier leben? Nein
danke. Surrealismus + Antifaschismus“ im Kunstbau des Lenbachhauses München
überraschen. Denn in dieser Schau [1][wird der Surrealismus nicht mehr als
ein künstlerisch-literarischer Stil] der Moderne dargestellt, sondern als
„politisierte Bewegung von internationaler Reichweite und
internationalistischen Überzeugungen“, so der Pressetext.
Ein interessanter Ansatz. Es stimmt, der vor einhundert Jahren im ersten
Manifest von André Breton wortreich ins Leben gerufene Surrealismus sollte,
ähnlich wie zuvor Dada, die herrschenden Verhältnisse überwinden. Kunst und
Literatur waren dafür allenfalls ein Mittel. Ein „psychischer
Automatismus“, so Breton, sei der Surrealismus, oder ein „Denk-Diktat ohne
jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder
ethischen Überlegung“. Die einfachste surrealistische Handlung, schreibt
der französische Schriftsteller wenige Jahre später, bestehe darin, „mit
Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings so viel wie
möglich in die Menge zu schießen“.
Nicht, dass dies Rezept wörtlich zu nehmen wäre, doch die Geschichte der
surrealistischen Bewegung ist von öffentlichen Skandalen, Positionskämpfen
und teils handfest ausgetragenen Konflikten über künstlerische wie
politische Standpunkte nicht zu trennen.
Der Surrealismus als revolutionäre Kraft geriet dann auch schnell in
Konkurrenz zur Moskau-gesteuerten Kommunistischen Internationalen. Die
Komintern beharrte auf eine proletarische „Weltrevolution“ zur Überwindung
der Verhältnisse. Die Surrealisten wollten jedoch nicht nur die Welt
revolutionieren, sondern auch das Leben, gespeist aus Karl Marx’
historischem Materialismus, Arthur Rimbauds poetischer Erfahrung und
[2][Sigmund Freuds psychoanalytischen Schriften]. Sie strebten an, was der
Literaturwissenschaftler Peter Bürger als Hauptmerkmal der großen Projekte
der Avantgarde ausgemacht hat: Die Kunst in Lebenspraxis aufgehen zu
lassen. Schade, dass das dreiköpfige Kuratorenteam in München um Stephanie
Weber seine Revision des politischen Engagements der Surrealisten
ausgerechnet am alten Kampfbegriff des Antifaschismus ausrichtet. Der hatte
besonders während der Stalinisierung der 1920er Jahre Konjunktur.
## Die heraufdämmernden Faschismen in Europa
Es gibt Überschneidungen: Für die heraufdämmernden Faschismen in Italien
und Spanien und vor allem für den Nationalsozialismus hatten die
Surrealisten nur wenig übrig. Früh traten die Akteure des Surrealismus auch
gegen den Kolonialismus an, etwa als Fürsprecher der nordafrikanischen
Rifkabylen in einem Aufstand, den die Kolonialarmeen Frankreichs und
Spaniens auch mit chemischen Waffen niederwarfen. Unter den zahlreichen
Dokumenten, die die Schau aus der vierzigjährigen Geschichte der Bewegung
zeigt, sticht ein Flugblatt heraus. Das annonciert eine surrealistische
Gegenausstellung zur offiziellen „Exposition coloniale internationale“, die
von Mai bis September 1931 in Paris stattfand. Darauf ein markiges
Marx-Zitat vor lieblos aufgereihten afrikanischen Skulpturen: „Ein Volk,
das andere unterdrückt, kann sich selbst nicht befreien!“
Trotzdem gerieten die Surrealisten schnell mit den parteiisch organisierten
Kommunisten Frankreichs in Konflikt, nicht zuletzt mit dem [3][autoritären
Führungsanspruch Stalins]. Fast wäre die Pariser Gruppe um André Breton
Ende der 1920er Jahre im Richtungsstreit darüber zerbrochen, wie man sich
einen „Surrealismus im Dienst der Revolution“ genau vorzustellen habe. 1938
traf sich Breton mit Leo Trotzki in dessen Exil in Mexiko. Ergebnis ist die
gemeinsam verfasste Kurskorrektur „Pour un art révolutionnaire
indépendent“. Aber: Hatte sich nicht auch die tschechische Gruppe in Karl
Teiges Manifest „Surrealismus gegen den Strom“ um Abgrenzung nach zwei
Seiten, gegen Nazis wie Stalinisten, bemüht? Diese Schrift findet sich
leider nicht in der sonst recht üppig bestückten Schau.
Um die historischen Umstände und politischen Feinheiten ist die Münchener
Ausstellung eher unbekümmert. Stattdessen stellt sie in einem kleinteiligen
Lehrpfad die Kunst der Surrealisten und ihre Aktivitäten gegenüber, die sie
meist pauschal als „antifaschistisch“ deklariert. In räumlich voneinander
abgesetzten Kapiteln – zum Beispiel „Gespenster in Prag“, „Zoff in Pari…
oder „Exile“ – werden Schlüsselszenen und Nebenwege aus der vier Jahrzeh…
überspannenden Geschichte der Bewegung bearbeitet. Was den Surrealismus zur
einflussreichsten Avantgardebewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
gemacht hat, scheint dabei nur indirekt auf.
Fast vierhundert Exponate [4][fährt das Lenbachhaus] im Kunstbau auf,
darunter Dokumente, Bücher und Zeitschriften. Etwa von der obskuren
Widerstandszelle „La Main à plume“ mit ihrer riskanten Engführung von
Poesie und Widerstand im von den Nazis besetzten Paris. Oder die
handgeschriebenen „Paper Bullets“, [5][die Fotografin Claude Cahun] mit
ihrer Partnerin Marcel Moore während des erzwungenen Aufenthalts auf der
Kanalinsel Jersey Anfang der 1940er Jahre verbreitete: „Lasst eure
Maschinen langsamer gehen/Verderbt sie verstohlenerweise“ heißt es auf
einem der mit Bleistift oder Schreibmaschine beschriebenen Zettelchen, die
als subversive Botschaften an die dort stationierten Wehrmachtsoldaten
gerichtet waren. Solche Zeugnisse aktiven Widerstands unter prekären
Bedingungen erlauben einen neuen Blick auf das Werk Cahuns. Bislang ist sie
eher für ihre Fotos und Fotomontagen bekannt, in denen sie sich gegen
Geschlechtszuschreibungen und Rollenbilder zur Wehr setzt. 1944 werden
Cahun und Moore von der Gestapo verhaftet. Das Kriegsende verhindert ihre
Hinrichtung.
## Das Klischee des Traumbilds
Das Lenbachhaus hat keine Blockbuster-Schau eingerichtet, das ist ihm hoch
anzurechnen. Die berühmten Protagonisten des Surrealismus – Salvador Dalí,
Joan Miró oder René Magritte –, die sonst lange Besucherschlangen vorm
Museum garantieren würden, tauchen kaum auf. Ein einsames Gemälde von
[6][René Magritte] in der Ausstellung entspricht dann auch ziemlich dem
Klischee des surrealistischen Traumbilds: „L’ombre terrestre“ (1928) zeigt
einen Dinosaurier mit menschlichen Füßen in einer leeren, bühnenhaften
Landschaft.
In den Fokus der Schau rücken mit Victor Brauner, Leonora Carrington,
Jacques Herold, Wilfredo Lam, [7][Lee Miller], Wolfgang Paalen, Jindřich
Štyrský oder Remedios Varo stattdessen die Nebenfiguren. Sie machen auch
deutlich, warum die Kunst des Surrealismus zu solch einem Wildwuchs
tendiert: Die unkontrollierten Gesten von André Masson geben einen
Vorgeschmack auf die abstrakte Nachkriegsmalerei eines Jackson Pollock, die
B-Movie-reifen Angstszenarien von Leonora Carrington hängen ihre Gemälde
selbstbewusst zwischen Akademismus und Hobbykunst ein und die tschechischen
Surrealisten Štyrský und Toyen verbacken spontan aufgestrichene, dicke
Farbmasse, ohne Rücksicht auf Geschmack oder Stil, zu amorphen
Aquarienlandschaften. Ihre Freakiness blieb kunsthistorisch eher folgenlos.
Ausführlich wird der Österreicher Wolfgang Paalen vorgestellt. Er nutzte
abgelagerten Ruß als Malmittel, auch fumage genannt, und arbeitete im
mexikanischen Exil an einer Philosophie, die indigene Kunst mit
Quantentheorie kombinierte.
Es ist also vieles neu zu entdecken in dieser Ausstellung. Und das, obwohl
das politästhetische Potenzial des Surrealismus auch in Deutschland seit
Langem erforscht und kritisch diskutiert wird. Mit seinen dicht bestückten
Vitrinen- und Regaldisplays fehlt der Ausstellung aber eine gewisse
Sensibilität gegenüber der Kunst und dem Publikum. Der Sinn des Münchner
Großprojekts erschließt sich am besten für diejenigen, die schon wissen,
wonach sie suchen.
26 Oct 2024
## LINKS
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[5] /Premiere-in-Kammerspielen-Muenchen/!5882730
[6] /Graphic-Novel-Ausstellungen-in-Paris/!6032358
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## AUTOREN
Hans-Jürgen Hafner
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