| # taz.de -- Surrealismus in Belgien: Showmen auf dem Jahrmarkt der Subversion | |
| > Der Surrealismus war in Brüssel und der Wallonie stark vertreten. Mehrere | |
| > Ausstellungen feiern das 100-jährige Jubiläum von André Bretons Manifest. | |
| Bild: Was kucken die denn da? Paul Nougé, „La naissance de l’objet“ aus … | |
| Im ehemaligen Hospitalkloster Notre-Dame à la Rose im wallonischen | |
| Lessines befindet sich eine kunsthistorische Kuriosität, ein Tafelbild | |
| eines unbekannten Meisters aus dem späten 16. Jahrhundert. Es zeigt eine | |
| Wehklageszene um den Leichnam Jesu. Dessen Körper ist mit eindeutig | |
| weiblichen Attributen ausgestaltet, und der Tote verweist mit einer Hand | |
| auf seine Brüste. Es ist eine der wenigen überlieferten Darstellungen eines | |
| „genderfluiden“ Christus, die mystische Ursprünge hatte und selbst zu ihrer | |
| Entstehungszeit nur von Eingeweihten verstanden wurde. | |
| Geheimnisvolle, nicht selten provokante Bilder schuf auch der berühmteste | |
| Sohn des Ortes, René Magritte. 1898 wurde der Maler in Lessines im Hennegau | |
| geboren, wovon eine Skulptur auf der Grand’Place zeugt: Der Surrealist | |
| sitzt mit verkehrt aufgesetzter Melone auf dem Kopf auf einer Parkbank. Das | |
| lässt schmunzeln, wie so manche Werke des Belgiers. | |
| 1924 schrieb der Franzose André Breton sein „Manifeste du Surréalisme“. | |
| [1][Das 100-jährige Jubiläum der surrealistischen Bewegung wird nicht nur | |
| in Paris], sondern auch in Belgien gefeiert. Nach zwei prestigeträchtigen | |
| Schauen im Frühjahr in der Hauptstadt Brüssel wurden nun noch weitere | |
| kleinere und größere Ausstellungen in der französischsprachigen Region | |
| Wallonie eröffnet, die einen profunden Einblick in die belgische Spielart | |
| des Surrealismus bieten. Die Städte Mons, Charleroi und Lüttich richten | |
| dafür drei umfangreiche Ausstellungen zum „Objekt“, zur Fotografie und zur | |
| Malerei von Paul Delvaux aus. | |
| Geschichte der Hennegau-Gruppe | |
| Im Archiv- und Ausstellungszentrum Centre Daily-Bul & Co in La Louvière | |
| kann man darüber hinaus eine kleine, aber feine historische Ausstellung zur | |
| Geschichte der Hennegau-Gruppe besuchen. Sie zeigt auf, dass der | |
| Surrealismus in den 1920er und 1930er Jahren eine breite Strömung war. | |
| Bereits 1924 bildeten sich erste surrealistische Gruppen („Correspondance“ | |
| 1924, „Rupture“ 1934 u. a.) in Brüssel und im Hennegau, die ihre Gedanken, | |
| poetischen und politischen Schriften in eigenen Magazinen veröffentlichten. | |
| „Daily Bul“ nannte sich so ein Magazin, das 1957 von André Balthazar und | |
| Pol Bury herausgegeben wurde und mit oft satirischen Texten und Zeichnungen | |
| der Gruppe gefüllt war. | |
| René Magritte wuchs in Châtelet auf, wo das Magritte-Haus, Wohnhaus der | |
| Familie von 1911 bis 1917, seine Jugendzeit dokumentiert. Seine | |
| alptraumhaften Gemälde-Imaginationen gehen mutmaßlich auf Erlebnisse in | |
| seiner Kindheit zurück. | |
| Als Sohn eines Schneiders und einer Hutmacherin scheint ihm die Vorliebe | |
| für Herren in Anzügen mit Melonenhut in die Wiege gelegt worden zu sein. | |
| Aber auch eine tragische Begebenheit prägte ihn: Als er 13 Jahre alt war, | |
| ertränkte sich seine unter Depressionen leidende Mutter im nahe gelegenen | |
| Fluss Sambre. | |
| Der Dichter Paul Nougé | |
| Ganz in der Nähe, in der Großstadt Charleroi, befindet sich seit 1987 in | |
| einem ehemaligen Karmeliterkloster das Museum für Fotografie. Zum Jubiläum | |
| hat es die reichhaltige Fotoausstellung „Surrealismus sozusagen …“ | |
| konzipiert. Der heute fast vergessene Dichter Paul Nougé (1895–1967) war | |
| der Kopf der Brüsseler Surrealisten, erfährt man dort, seine Rolle ist mit | |
| der André Bretons in Frankreich vergleichbar. | |
| 1929/1930 schuf er seine Fotoserie „Die Subversion der Bilder“, in der er | |
| seine theoretischen Ansätze in rätselhafte Bilder umsetzt. Wie „Die Geburt | |
| des Objekts“. Auf der Innenraumaufnahme begutachtet eine Gruppe Leute, | |
| darunter René und Georgette Magritte, unerklärlicherweise eine leere Stelle | |
| an der Wand. Nougé wollte die Menschen überraschen, sie von herkömmlichen | |
| Denk- und Lesemustern befreien. | |
| Unter den vielen kunstvollen Stücken in Charleroi fasziniert besonders | |
| Raoul Ubacs kleinformatiges Foto „La Nébuleuse“ von 1929. Schemenhaft ist | |
| darauf eine Frau in vamphafter Pose und in diffuser Umgebung zu erkennen. | |
| Den phantastischen Effekt erzielte Ubac (1910–1985), indem er sein Negativ | |
| erhitzte, um so durch „göttlichen Zufall“ (Ubac) ein unerwartetes Resultat | |
| zu erzielen. Die surrealistische Fotografie, sie zeichnete sich durch viel | |
| Experimentierlust aus, eröffnete dem Medium neue Möglichkeiten. | |
| Die Wirklichkeit erschüttern | |
| Um den belgischen Surrealismus zu verstehen, sollte man ins Museum der | |
| Schönen Künste nach Mons reisen und die Ausstellung „Surrealismus, die | |
| Wirklichkeit erschüttern“ besuchen. Sie versammelt Werke von den Anfängen | |
| bis in die Gegenwart, von rund 30 Künstlerinnen und Künstlern. | |
| Auch die lang vergessenen Frauen wie Jane Graverol, Rachel Baes oder | |
| [2][Evelyne Axell], deren surrealistische Kunst in der Nachkriegszeit | |
| wichtig war, tauchen in der Schau wieder auf. Am Anfang der Bewegung stand | |
| eine subversive Idee: Die Welt sollte „verändert werden“ (gemäß Arthur | |
| Rimbaud) und „verwandelt“ (Karl Marx). | |
| Das Mastermind der belgischen Surrealisten, Paul Nougé, schuf dafür | |
| Formeln, die an Marketingstrategien erinnern: Wie „Showmen“ des Jahrmarkts, | |
| „kokette“ Damen oder Werber sollten die Surrealisten agieren, damit | |
| Passanten auf ihre Kunst aufmerksam würden und eine „Begierde“ danach | |
| entwickelten. Nougé experimentierte in vielfältiger Form, wandelte | |
| Werbeanzeigen oder Wahlplakate subtil ab und veränderte so komplett ihren | |
| Sinn. [3][] | |
| [4][Sein Freund René Magritte] arbeitete zum Broterwerb in der Werbung und | |
| schuf [5][unzählige Grafiken und Plakate], von denen viele in Mons | |
| ausgestellt sind. Unzweifelhaft nutzte Magritte später diese Erfahrung, um | |
| die uns heute traumwandlerisch perfekt erscheinende Gestaltung seiner | |
| Gemälde zu optimieren. | |
| Gedanken jenseits des Konsums | |
| Zentraler Begriff, so zeigt Schau in Mons, ist für die belgischen | |
| Surrealisten das „erschütternde Objekt“. Es sollte die Menschen zu neuen | |
| Gedanken jenseits des Konsums anregen. Ein solches Objekt konnte ein | |
| Gedicht, ein Foto oder ein Gegenstand auf einem Gemälde sein. | |
| Wie das geheimnisvolle, scheinbar riesige Ei auf dem Bild „Der Blick“ („Le | |
| regard“) von Jane Graverol (1905–1984), das in einer irrealen Landschaft | |
| thront. Es konnte aber auch ein gefundener Alltagsgegenstand sein, der als | |
| Skulptur oder Installation eine neue Bedeutung erfuhr. | |
| Marcel Mariën (1920–1993), der die zweite Generation der Surrealisten nach | |
| dem Tod von Magritte und Nougé 1967 als Denker wie als Künstler prägte, | |
| schuf 1966 das dreidimensionale Objekt „Die Lasterhafte“ („La Vicieuse“… | |
| Es zeigt ein Ei in einem Glaskasten, das in einem goldenen Schneebesen | |
| gefangen ist. | |
| Eine kritische Anspielung auf die damalige [6][Doppelrolle vieler Frauen | |
| als Hausfrau] und Objekt der Begierde zugleich. Man kann an „La Vicieuse“ | |
| aber auch ablesen, dass in den 1960ern neue Kunstbewegungen wie die Pop Art | |
| in den Surrealismus einfließen. | |
| Unterschied zum französischen Surrealismus | |
| Was macht denn aber nun die belgische Spielart des Surrealismus aus? | |
| Kuratorin Marie Godet formuliert den Unterschied zum französischen | |
| Surrealismus so: „Die Franzosen wurden stärker von [7][Freuds | |
| Psychoanalyse] und Traumdeutung inspiriert und bevorzugten abseitige, | |
| schräge Objekte, während die Belgier eine rationale Methodik anwendeten und | |
| das Surrealistische in Alltagsgegenständen suchten.“ | |
| Wer gerne in die phantastische Bilderwelt des Surrealismus eintaucht, | |
| sollte in Lüttich das Museum „La Boverie“ besuchen, das Paul Delvaux | |
| (1897–1994) eine Werkschau widmet. Delvaux ist nach Magritte der | |
| bekannteste surrealistische Maler aus Belgien. | |
| Andy Warhol verehrte seine Kunst und schuf im Jahr 1981 eine Serie von | |
| Delvaux-Porträts, die auch in „La Boverie“ zu sehen sind. Die Motive des | |
| belgischen Malers oszillieren auf seinen großformatigen Leinwänden zwischen | |
| Eros, Bahnhof, Antike und Tod. Viele der ausgestellten Werke scheinen ein | |
| unwiderstehliches Geheimnis zu bergen, wie bei Magritte. | |
| 18 Nov 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ralph Trommer | |
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