# taz.de -- Graphic Novel Ausstellungen in Paris: Als Comics Kunst wurden | |
> Das Pariser Centre Pompidou dokumentiert die Geschichte des Comics. Eine | |
> Hommage und eine Reise in die Vergangenheit und Zukunft der Graphic | |
> Novel. | |
Bild: Verrätselte Auseinandersetzung mit Motiven von René Magritte: Éric Lam… | |
Auf Französisch heißen Comics bandes dessinées. „La BD á tous les étages… | |
„Comic auf allen Etagen“ nennt sich die überragende Schau im Pariser Centre | |
Pompidou, die gleich vier Ausstellungen vereint, verteilt auf mehrere | |
Ebenen [1][des Kunsttempels.] Übersetzt lauten sie „Comics im Museum“ (im | |
5. OG), „Comic. 1964–2024“ (6. OG) und „Corto Maltese. Ein Leben wie ein | |
Roman“ (2. OG). Außerdem gibt es auf der ersten Ebene mit „Tenir tête“ | |
(etwa: „die Stirn bieten“) ein immersives Ferienlager, das von der | |
Comiczeichnerin Marion Fayolle gestaltet wurde: In nomadischen Zelten, die | |
wie halbe Köpfe aussehen, können Kinder ins poetische Universum der | |
Zeichnerin eintauchen. | |
Die mitten in der Bibliothek platzierte Pavillon-Ausstellung „Corto | |
Maltese“ huldigt mit zahlreichen seltenen Originalzeichnungen und | |
Aquarellen in betörenden Pastelltönen dem gleichnamigen Abenteurer und | |
Antihelden aus der Feder [2][Hugo Pratts,] enthüllt wichtige Motive sowie | |
literarische Vorbilder des italienischen Zeichners. | |
Das Centre Pompidou hat die Kunstform Comic seit 1977 schon mehrfach mit | |
Ausstellungen gewürdigt, etwa über bedeutende Pioniere wie Hergé (2004) | |
oder die Humoristin [3][Claire Bretécher] (2015). Mit den beiden zentralen | |
„Etagen“-Ausstellungen versucht sie nun, das Medium umfassend und zeitgemä… | |
vorzustellen. | |
„Comic. 1964–2024“ spürt der Geburt des modernen Comics in der | |
europäischen, amerikanischen und japanischen Welt nach. 1964 wird dabei als | |
Schlüsseljahr definiert. Wurden zuvor Comics hauptsächlich für Kinder und | |
Jugendliche konzipiert, so werden Anfang der 1960er Jahre neue Magazine | |
gegründet, die Gesellschaftskritik üben und komplexe Geschichten erzählen. | |
Der die Ausstellung eröffnende große Saal bekommt entsprechend das Motto | |
„Gegenkultur“. In den USA bringen Comiczeichner wie [4][Robert Crumb] | |
selbst geheftete, freche Underground-Magazine heraus, die die Zensur des | |
„Comics Code“ der prüden 50er Jahre ignorieren, während in Frankreich das | |
subversiv-satirische Magazin Hara-kiri (Vorläufer von Charlie Hebdo) ab | |
1960 erscheint, in der Comiczeichner wie Jean-Marc Reiser oder Georges | |
Wolinski einen bissig-zynischen Humor pflegen. | |
Jean-Claude Forest zeichnet 1964 in Pop-Art-Manier den einflussreichen | |
Science-Fiction-Comic „Barbarella“: Erstmals steht hier eine | |
selbstbewusste, erotische Frauenfigur im Mittelpunkt. Und in Japan | |
erscheint mit Garo ebenfalls 1964 ein Avantgarde-Mangamagazin, das einer | |
neuen Generation von Zeichnern erlaubt, persönliche, düstere Geschichten zu | |
erzählen. | |
## Ein Blick nach Japan | |
Mit diesen parallelen Entwicklungen wurden Grundsteine gelegt für | |
anspruchsvolle Comics bis heute. Japan wird zu Recht gleichberechtigt mit | |
der westlichen Comicgeschichte behandelt und die Mangaka (Comiczeichner) | |
der 60er Jahre sogar als Vorreiter ausgemacht, die bereits vor Europa und | |
den USA autobiografische, anspruchsvolle Geschichten im Sinne heutiger | |
Graphic Novels erzählten. | |
Die Ausstellung ist in zwölf thematisch geordnete Kabinette unterteilt. Für | |
„Lachen“ (so das Motto) sorgen viele populäre Comicserien, von Franquins | |
chaotischem Büroboten „Gaston“ über „Asterix“ hin zum überbordenden | |
Schabernack eines Gotlib oder zum 68er-Generationenporträt in Claire | |
Bretéchers „Frustrierten“. | |
Gleich gegenüber widmen die Ausstellungsmacher ein Kabinett dem | |
„Schrecken“, wo Shigeru Mizukis kindlicher Dämon „Kitaro“ in den 60ern | |
makabre Abenteuer erlebt und heutige US-Zeichner wie Daniel Clowes oder | |
Charles Burns albtraumhaft-bizarre Geschichten über Jugendliche in den | |
80ern und 90ern ersinnen. | |
Das Unbewusste findet seine Reflexion im Kabinett „Traum“, wo der Zeichner | |
Killoffer seine meisterhaft surrealen, schwarzweißen Albträume | |
visualisiert. Ein Höhepunkt ist die ausgefeilte Modellstadt, die der | |
kanadische Zeichner Seth für seine Graphic Novel „Clyde Fans“ | |
dreidimensional entwarf und die im Kabinett „Städte“ aufgebaut wurde. | |
Allein diese Schau lohnt die Reise nach Paris, die viele seltene originale | |
Comicseiten neben Cover-Illustrationen und Animationsfilmen von 130 | |
Künstlerinnen und Künstlern versammelt und klug Comic-Altmeister wie | |
Alberto Breccia neben weniger bekannte Werke der heutigen Generation (z. B. | |
Rébecca Dautremer) hängt. | |
Auch die zweite zentrale Präsentation „Comics im Museum“ ist nicht weniger | |
anregend. Sie setzt essenzielle Werke der Moderne aus der Sammlung des | |
Museums für moderne Kunst, das sich im Centre Pompidou befindet, in | |
Beziehung zur Comickunst. Das Museum arrangiert dafür ausgewählte Stücke | |
seiner vielfältigen Sammlung, von Francis Picabia bis Robert und Sonia | |
Delaunay, neu und stellt in den Vitrinen-Gängen dazwischen klassische Werke | |
der Comicgeschichte aus, die zeitlich parallel entstanden sind. | |
## Das Jahr 1905 als Schlüsselpunkt | |
Wieder steht ein Jahr als Ausgangspunkt für Entwicklungen in der bildenden | |
Kunst wie im Comic: das Jahr 1905. Auf dem Pariser Herbstsalon | |
präsentierten sich erstmals die „Fauves“, eine Künstlergemeinschaft um | |
Henri Matisse, und lösten wegen ihrer neuartigen Kunstauffassung und den | |
provozierend leuchtenden Farben einen Skandal aus. | |
Im selben Jahr erschien in US-Zeitungen die erste bunte Seite um „Little | |
Nemo“ von Winsor McCay, in der ein Junge in seinen Träumen fantastische | |
Abenteuer erlebt. In fast jeder Folge experimentierte McCay mit der Form, | |
spielte mit Deformationen und Verzerrungen der Körper oder mit den | |
Möglichkeiten des Seitenlayouts. | |
Ebenfalls 1905 entdeckte [5][Pablo Picasso] in Paris die amerikanischen | |
Zeitungscomics (unter anderem die experimentierfreudige Serie „Krazy Kat“ | |
von George Herriman), die Gertrude Stein ihm aus Amerika mitbrachte. | |
Weitere wichtige Künstler wie Hergé (hier mit Skizzen und Originalseiten | |
zum Mondreiseabenteuer von „Tim und Struppi“ vertreten), Calvo (Zeichner | |
des Résistance-Tiercomics „Die Bestie ist tot“, in der Hitler 1942 als Wolf | |
karikiert wird) oder Will Eisner dürfen nicht fehlen. | |
Fokussiert werden zudem 15 zeitgenössische Comiczeichnerinnen und | |
-zeichner, die sich von Kunstwerken der Moderne zu Comics inspirieren | |
ließen oder formale Analogien zu ihnen aufweisen. So greift der Belgier | |
Éric Lambé für seine verrätselte Comic-Hommage „Die Saison der Weinlese“ | |
(2016) Motive aus René Magrittes Werk auf: der Mann im Anzug mit Melone, | |
die Pfeife, Fantômas-Maske, Frauentorsi … | |
Daneben hängt exemplarisch Magrittes Gemälde „Souvenir de voyage“ von 192… | |
Der Italiener und Comic-Erneuerer der 80er Jahre Lorenzo Mattotti wiederum | |
weist mit den albtraumhaft-deformierten Kreaturen und den tiefschwarzen | |
Hintergründen in seinen Illustrationen zu Gedichten von Edgar Allan Poe | |
(für die Buchversion zu Lou Reeds Bühnenprojekt „The Raven“, 2009) eine | |
ästhetische Verwandtschaft mit Francis Bacons Selbstporträt von 1971 auf. | |
Der Franzose David B. erforscht wiederum in seinem surrealistischen Comic | |
„Nick Carter und André Breton“ (2019) die Traumwelten des Dichters und | |
Theoretikers, von dem das Centre die komplette Atelierwand seiner Wohnung | |
wie ein Kuriositätenkabinett präsentiert. | |
## Kunst auf allen Etagen | |
Beiläufig wird deutlich: Der Comic ist eine eigenständige Kunstform – seine | |
Wirkung erzielt er durch grafische, aber auch durch erzählerische Elemente, | |
von denen ein Museum nur Auszüge zeigen kann. | |
Die abwechslungsreiche Marathon-Ausstellung „Comic auf allen Etagen“ setzt | |
neue Maßstäbe, indem sie spielerisches Comicdesign wie bei Marion Fayolle | |
innovativ-analytischen Dialogen mit der „neunten Kunst“, wie der Comic in | |
Frankreich auch genannt wird, gegenüberstellt. | |
Der Besuch sollte möglichst auf mehrere Tage verteilt werden, damit die | |
vielfältigen Werke auch gewürdigt – und vor allem genossen werden können. | |
7 Sep 2024 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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