# taz.de -- Graphic Novel über das Zeichnen: Comiczeichner in Ordenstracht | |
> Zeitreise ins Mittelalter und in die nahe Zukunft: Das Comicbuch „Lose | |
> Blätter“ von Alexandre Clérisse handelt ideenreich von der Lust des | |
> Erzählens. | |
Bild: Ein bisschen anders sieht es aus: Die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts… | |
Schon auf der ersten Seite wird klar: Max ist ein Besessener. Obwohl die | |
Ferien noch nicht zu Ende sind und draußen bestes Wetter ist, sitzt der | |
Junge mit der dicken Brille drinnen – und zeichnet manisch an einer | |
Comicgeschichte. Sein Vater wundert sich, dass sie ausgerechnet im | |
Mittelalter spielt. Als Max dann doch hinausgeht, um im Wald Skizzen zu | |
machen, stößt er auf einen seltsamen Mann mit langem rotem Bart, der in | |
einer Burg haust. | |
Der 1980 geborene französische Zeichner Alexandre Clérisse erzählt in | |
seiner neuen, im Hamburger Carlsen Verlag erschienenen Graphic Novel „Lose | |
Blätter“ keine lineare Geschichte. Der Handlungsstrang um den jungen Max | |
und dessen künstlerische Entwicklung hat möglicherweise autobiografische | |
Züge, ist aber doch nur ein Teil einer geschickt ineinander verschachtelten | |
Erzählung. Es geht nämlich um drei Personen in drei verschiedenen Epochen, | |
die parallel erzählt werden. | |
## Die Angst vor dem Fallbeil | |
Da ist einmal Max, den es in den 1990er Jahren dazu drängt, eine Geschichte | |
über den Kopistenmönch Raoul im 15. Jahrhundert zu zeichnen. Dieser Held | |
der zweiten Erzählung wird eines Tages auf neuartige, von den Obrigkeiten | |
als „teuflisch“ eingestufte Erzeugnisse einer Druckerpresse aufmerksam. | |
Raoul fühlt sich von seiner eigenen Zeit eingeengt und möchte im Geheimen | |
mithilfe der Drucktechnik gezeichnete Geschichten aus der Zukunft erzählen | |
und verbreiten. Seine Hauptfiguren sind Max und Suzie. Die Angst vor dem | |
Fallbeil ist groß, auch wenn der Herzog der größte Fan des so entstandenen | |
„Comics“ wird. | |
Suzie ist wiederum die Heldin des dritten Parallelstrangs: die erwachsene | |
Tochter von Max, dem mittlerweile berühmten, alten Comiczeichner. Sie lebt | |
in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts, zeichnet ebenfalls und führt | |
Max’ Comicserie mithilfe virtueller Realität fort – inzwischen schon eine | |
veraltete Technik. Ist Suzie die eigentliche Erzählerin des vorliegenden | |
Buches, oder doch der junge Max? Oder ist es gar der Mönch und Comicpionier | |
Raoul, dessen Fantasie in die ferne Zukunft schweift? | |
## Die Erzählebenen lösen sich auf | |
Der Erschaffer dieser Erzählwelt, der Zeichner Clérisse, arbeitete in den | |
vergangenen Jahren oft mit dem Autor Thierry Smolderen zusammen, der eine | |
Neigung zu komplexen Erzählkonstruktionen hat. Ihre gemeinsamen Graphic | |
Novels wie „Das Imperium des Atoms“ (2013) und [1][„Ein diabolischer | |
Sommer“ (2016)] erschienen in deutscher Übersetzung, während Clérisse’ | |
sonstige Comics hierzulande bisher ignoriert wurden. Mit „Lose Blätter“ | |
legt er nun sein Meisterstück vor. | |
Insbesondere an einer Stelle wird die Graphic Novel spannend: als klar | |
wird, dass sich die verschiedenen Erzählebenen gegenseitig beeinflussen und | |
bedrohen. Die Kapiteleinteilung versieht der Zeichner mit bewusst | |
verwirrenden Bezeichnungen wie „Präambel“ oder „Präludium“, springt v… | |
„ersten Kapitel“ zum „Kapitel eins“ und so fort. Doch die Verständlich… | |
beeinflusst das nicht. Dass die Erzählebenen hinterfragt werden und sich | |
allmählich auflösen, macht gerade den Spaß der Lektüre aus. | |
## Lektion über das Comiczeichnen | |
Alexandre Clérisse ist dafür bekannt, seine Comics mittels digitaler | |
Vektorgrafik zu zeichnen. Seine Seitenlayouts erinnern dadurch ein wenig an | |
bunte Infografiken. Diesmal nutzt er klassisches Werkzeug: Die Bilder sind | |
als Bleistiftvorzeichnung auf Papier entstanden und in | |
Couleur-directe-Technik mit Acrylfarben koloriert. Besonders pfiffig ist, | |
dass seine sich oft auf Doppelseiten erstreckenden Zukunftsvisionen auf | |
Buchillustrationen des 15. Jahrhunderts – dem „Stundenbuch“ des Herzogs v… | |
Berry – basieren. So scheint es, als hätte sich wirklich der Mönch Raoul | |
auf Basis des damaligen Wissens eine zukünftige Stadt erträumt. Der leicht | |
naive Touch dieser großen Wimmelbilder des Buches ist somit auch | |
wohlbegründet. | |
„Lose Blätter“ (im Original bedeutet „Feuilles volantes“ auch | |
„Flugblätter“, wie die ersten verbreiteten Druckerzeugnisse um 1488) ist | |
eine virtuos konstruierte und grafisch abwechslungsreiche Lektion über das | |
Comiczeichnen und das Erzählen. Sie macht Lust darauf, auf | |
(Bücher-)Zeitreise zu gehen – alte Bildwelten zu durchstreifen oder nach | |
frühen Zukunftsvisionen zu suchen, die meist von der Gegenwart der | |
jeweiligen Zeichnerinnen und Zeichner erzählen. | |
9 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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