| # taz.de -- Comic aus Belgien: Ein teuflisch langer Schatten | |
| > Hinter der bürgerlichen Fassade der Väter tun sich Abgründe auf: „Ein | |
| > diabolischer Sommer“ widmet sich einem beliebten Nachkriegsgenre. | |
| Bild: Zeichner Clérisse evoziert die Innenwelt des Teenagers | |
| Populäre italienische Comichelden, vergleichbar mit den beliebten | |
| französischen Galliern, belgischen Haartolleninhabern oder muskelbepackten | |
| amerikanischen Superhelden sucht man in der einschlägigen Historie des | |
| Landes vergebens. Hierzulande wenig bekannt ist, dass Italien eine | |
| eigenständige Tradition trivialer Comicserien entwickelt hat, die mit ihren | |
| finsteren Antihelden eine Art Gegenpol zu den üblichen Saubermännern | |
| bildeten. | |
| Die Initialzündung fand 1962 statt, als zwei Verlegerinnen – die Schwestern | |
| Angela und Luciana Giussani – die Taschenbuchreihe „Diabolik“ auf den Mar… | |
| brachten. Diabolik hieß der titelgebende Antiheld, ein Superverbrecher, der | |
| ähnlich dem französischen Romanhelden „Fantômas“ eine Gesichtsmaske trug, | |
| dazu ein hautenges Trikot, und der vorzugsweise Juwelen stahl, in | |
| Zusammenarbeit mit seiner hochintelligenten Geliebten Eva Kant. | |
| Die extrem erfolgreiche Figur zog das Genre der „Fumetti neri“ („schwarze | |
| Comics“) nach sich, düster grundierter Comicserien mit weiteren Helden wie | |
| „Kriminal“ oder „Satanik“, die fabrikmäßig hergestellt wurden und in … | |
| Subgenres es um Verbrechen, Gewalt, Sex (bis hin zur Pornografie) ging, | |
| auch Horror- und Splattercomics zählen dazu. | |
| Die Beliebtheit Diaboliks ist bis heute ungebrochen, die Serie erscheint | |
| weiterhin, und anscheinend spricht der elegante, Jaguar-fahrende | |
| Gentlemanverbrecher, dessen Züge dem Hollywoodstar Robert Taylor | |
| nachempfunden sind, durch seine unterschwellige Erotik vorwiegend ein | |
| weibliches Publikum an. | |
| ## SS-Uniform auf alten Fotos | |
| Der belgische Szenarist Thierry Smolderen, 1954 in Brüssel geboren, ist in | |
| seiner Jugend selbst der Faszination des maskierten Verbrechers – neben | |
| einigen anderen geheimnisvollen Kiosk-Helden, wie etwa dem amerikanischen | |
| „Phantom“ – erlegen und hat diese Genre-Affinität nun in der Graphic Nov… | |
| „Ein diabolischer Sommer“ einfließen lassen, der zweiten Zusammenarbeit mit | |
| dem 1980 geborenen französischen Illustrator und Zeichner Alexandre | |
| Clérisse, mit dem er vor zwei Jahren „Das Imperium des Atoms“ | |
| herausbrachte. | |
| Diese komplexe Annäherung an das Leben und die Welt des | |
| Science-Fiction-Autors Cordwainer Smith (alias Paul Linebarger; Carlsen | |
| Verlag) überzeugte bereits durch Clérisse’ spielerischen grafischen Stil | |
| und war zugleich eine Hommage an die 50er Jahre. | |
| „Ein diabolischer Sommer“ beginnt im Sommer 1967 an der Côte d’Azur, wo … | |
| fünfzehnjährige Antoine mit seinem Vater, einem wohlhabenden Ingenieur, | |
| Urlaub macht. Eines Tages kommt der Vater des gleichaltrigen Deutschen Erik | |
| auf mysteriöse Weise ums Leben, nachdem es aus belanglosem Grunde zu | |
| Handgreiflichkeiten zwischen den beiden Vätern kam. Antoine und Erik | |
| freunden sich trotzdem an. Beim Stöbern entdeckt Erik alte Fotos, auf denen | |
| sein Vater während des Krieges in SS-Uniform zu sehen ist. Und Antoine | |
| spürt, dass sein Vater ebenfalls etwas verbirgt, zugleich ist er von dessen | |
| Eleganz fasziniert. | |
| Ein neuer Bekannter seines Vaters, der reiche Herr de Noé, entpuppt sich | |
| als französischer Beamter der Spionageabwehr, der ausgerechnet mit Antoines | |
| Vater über einen mysteriösen russischen Spion sprechen will. Außerdem | |
| scheint er die junge Amerikanerin Joan, die auf seinem Anweisen lebt, | |
| sexuell zu missbrauchen. Hinter der gutbürgerlichen Fassade dieser | |
| Väter-Generation scheinen Abgründe zu lauern. Das Ganze kulminiert eines | |
| Abends, als Antoine beobachtet, wie ein maskierter Mann seinen Vater | |
| bedroht. Am nächsten Tag ist dieser spurlos verschwunden. | |
| ## Kennedy-Attentat und Kalter Krieg | |
| Der zweite Teil des Buchs ist in kühleren Herbstfarben gehalten und handelt | |
| vom 20 Jahre älteren Antoine, der ein Buch über die Vorkommnisse von 1967 | |
| verfasst hat. Noch immer leidet er unter dem traumatischen Verschwinden | |
| seines Vaters und versucht nun, die letzten Geheimnisse des | |
| verhängnisvollen Sommers zu lüften. | |
| Thierry Smolderen gelingt es, ein spannendes Verschwörungsszenario zu | |
| konstruieren und lässt den Leser im Unklaren, ob die Ereignisse real sind | |
| oder der überreizten Fantasie des pubertierenden Antoine entsprungen sind. | |
| Psychologisch gelingt das äußerst glaubwürdig, da die Handlung ganz aus der | |
| Perspektive Antoines geschildert wird, der zunächst als Leser der | |
| Jugend-Comiczeitschrift „Pilote“ charakterisiert wird und dann auf die | |
| „erwachseneren“ Diabolik-Hefte aufmerksam wird. Von dieser | |
| Identifikationsfigur abgesehen, sind die Figuren durchweg ambivalent, wie | |
| der reifere Urlaubsfreund Erik oder die verführerische Joan. | |
| Dem Comic-Helden Diabolik am nächsten steht sicher Antoines Vater, doch ist | |
| auch das nicht eindeutig. Schließlich spielen das Kennedy-Attentat und der | |
| Kalte Krieg hinein ins Story-Geflecht, das zum Ende mit einigen gelungenen | |
| Überraschungen aufwartet. | |
| ## Subtiler Humor | |
| Für Alexandre Clérisse ist dieses vielschichtige, stets ironisch gebrochene | |
| Konstrukt eine Steilvorlage für grafische Finessen, die er allein mit der | |
| Graphic-Design-Software „Illustrator“ am Computer kreiert hat. Er | |
| verzichtet auf Panelumrandungen und Konturierung der Figuren, um durch | |
| Farbe und Lichtsetzung einen Lesefluss zu erzeugen, der der Innenwelt des | |
| Teenagers entspricht und auch mal zum psychedelischen Acid-Rausch ausufert, | |
| wenn Antoine von Joan die Droge verabreicht bekommt. | |
| Dann findet Clérisse Bilder, die die flächige Grafik der 60er Jahre, | |
| Plattencover und Pop-Art zitieren. Auch erinnern seine Bildkreationen an | |
| Farb- und Formexperimente in europäischen Comics der Zeit wie „Barbarella“, | |
| „Pravda“ oder „Valentina“, ohne sie zu einfach stilistisch zu kopieren. | |
| Damit hat das nunmehr eingespielte franko-belgische Team Smolderen/Clérisse | |
| erneut ein Werk geschaffen, das sich anspielungsreich und mit subtilem | |
| Humor einer vergangenen Epoche widmet. Übersetzt hat es Ulrich Pröfrock. | |
| 14 Oct 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Ralph Trommer | |
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