# taz.de -- Hamburger Comicfestival: Die Superkraft der langen Arme | |
> Alice Socals abgründigen Comic „Sandro“ hat die deutsche Kritik | |
> ignoriert. Beim Comicfestival Hamburg kann man ihr Werk entdecken. | |
Bild: Haben beide imaginäre Gefährten, die ihr Leben bestimmen: Pallas und Fr… | |
BREMEN taz | Manche Comics werden von der Kritik übersehen. Das hat oft | |
banale Ursachen, aber manchmal greift bei KritikerInnen zugleich auch eine | |
Art Selbstschutzmechanismus, eine unbewusste Abwehr. Einen Comic, der zu | |
sehr auf die Pelle rückt, bespricht man nicht so gern. Und dann bleibt | |
Alice Socals „Sandro“ halt unrezensiert, völlig zu Unrecht. | |
Aber eben nicht aus unerfindlichen Gründen. Das kann jeder beim zehnten | |
Hamburger Comicfestival selbst erfahren. Denn der im Frühjahr bei | |
Rotopolpress erschienene abgründige Comicroman der in Hamburg lebenden | |
Venezianerin hat eine so eigenständige Ästhetik, dass sie zu bemerken | |
Pflicht wäre fürs Feuilleton. | |
## Man muss sich von diesem Buch behelligen lassen | |
Wie Socal mit zeichnerischen und erzählerischen Konventionen bricht, wie | |
sie räumliche, zeitliche, reale und geträumte Dimensionen ineinander | |
verkeilt und wie sie mit bewusst unbeholfenem Strich den Bildern die | |
zögernde Zärtlichkeit ihres Protagonisten einpflanzt, das kann man nicht | |
übersehen. Da müsste man etwas zu sagen. Aber dafür muss man sich von dem | |
Buch behelligen lassen. | |
„Sandro“ erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, dessen schütterer | |
Schnurrbart aus 21 fahrigen Bleistiftstichhaaren eher seine Adoleszenz als | |
seine Virilität betont. Schon seit seiner Kindheit rufen ihn Frank und alle | |
anderen Mitschüler nur Pallas, nach einem heute komplett vergessenen | |
Naturkundler. Der 1742 in Berlin geborene Peter Simon Pallas hat über | |
Eingeweidewürmer geforscht, die Einsamkeit Sibiriens bereist und in | |
Krasnojarsk einen Meteoriten entdeckt. | |
Für die interessiert sich der junge Mann, der nach ihm benannt wird: | |
Verletzlich wirkt er, sensibel, wie ein Träumer – mit ausgeprägter | |
Ich-Spaltung. Der imaginäre Freund seiner Kindheit, Sandro, eine | |
Trostfigur, die statt Superkräften „ganz lange Arme“ zum Kuscheln hat und | |
unsichtbar ist, verlässt ihn auch als Twen noch nicht. | |
Ist das eine Heimsuchung? Oder ist das eine Rettung? Oder beides? Natürlich | |
beides. Dass Pallas seinen 26. Geburtstag so ganz solo feiert, und auch, | |
dass er schon zehn Jahre zuvor den Sommer „alleine in einem Plastikstuhl | |
verbracht“ hat, hängt damit zusammen, dass in seinem Inneren noch jemand | |
haust. | |
Sandro trägt eine schwarze Knubbelnase und einen dunklen Hoodie mit | |
kindischen Ohren-Applikationen. Die erinnern mal an die von Micky Maus, mal | |
an jene des gruseligen Silberhasen aus „Donnie Darko“, diesem legendären | |
Film von 2001. Manchmal scheinen sie, beim Blick in den Spiegel, beim | |
Schattenwurf am Kamin, direkt aus dem Kopf von Pallas zu sprießen. | |
Mit niemandem ließen sich schönere Abenteuer erleben als mit Sandro: In | |
Sepiafarben gestaltet Socal die mentale Wirklichkeit ihres Protagonisten, | |
also einerseits die Erinnerungen, aber auch die visionären Momente, die | |
Vorgriffe. | |
In Sepia jedenfalls denkt Pallas an seinem 26. Geburtstag daran, wie er mit | |
Sandro bei einer Fantasieexpedition unterm Kinderzimmertisch vor | |
sintflutartigen Regenfällen Zuflucht gesucht und einen Vulkan bestiegen | |
hat. Sandro war schuld, wenn fast die ganze Torte weggenascht war, wer denn | |
sonst! Und zu wem, wenn nicht zu seinem Sandro, könnte man den Satz „Jetzt | |
fahren wir nach Sibirien und suchen die Meteoriten“ sagen? | |
Doch hat Sandro eben auch die dumme Angewohnheit, sich immer dann zu | |
melden, wenn Pallas fast einen Schritt in die Erwachsenenwelt tun würde, | |
wenn er beinahe den ersten Sex hätte, wenn er … – es ist ein Leid: „Deine | |
langen Arme gaben mir keine Sicherheit mehr“, klagt Pallas in einem | |
eindrucksvollen Splash, in dem Socal die biegsamen Gliedmaßen des fiktiven | |
Begleiters teils in eine verschlungene Straße, teils in eine Riesenpython | |
verwandelt. „Ich fühlte mich, als würde ich ersticken.“ | |
Pallas macht, er ist hier 16, besoffen und bekifft, den Kühlschrank in der | |
Küche bei Freund Frank auf. Drinnen liegt: der Kopf von Sandro. Grinst. | |
Frank wird später vor den Trümmern einer Wassermelone stehen. „Ich hatte | |
ein riesiges Chaos angerichtet“, sagt Pallas. Das führt dazu, dass er die | |
Schule wechselt, von der Bildfläche verschwindet, alle Kontakte abbricht. | |
Auch zu Frank. | |
## Parasitäre Geschöpfe | |
Frank, das ist Pallas' Widerpart, der tatkräftige in der Jungsclique. Mit | |
beiden Beinen im Leben. Er ist derjenige, der das Hasch besorgt und das | |
Bier. Er ist derjenige, der Sex hat. Jetzt jobbt er natürlich. Als Postbote | |
ist er unterwegs. Dadurch begegnen die zwei einander wieder. Denn Frank | |
bringt die Päckchen. Und Pallas hat Geburtstag. Und erkennt: Auch dieser | |
normgerechte Frank wird von einem parasitären Geschöpf heimgesucht. | |
Das Prinzip des Realismus ist eine dreiköpfige Gans. Die drängt sich jedem, | |
der sich nicht wehrt, als Livecoach auf. Und hetzt ihn dann auf der Suche | |
nach Erfolg und Karriere und Happiness erbarmungslos mit ihren drei | |
gefährlich spitzen Schnäbeln. Bis zur Erschöpfung, bis zum Umfallen. Bis | |
zum Burn-out. | |
Weil er sich die Fähigkeit bewahrt hat, der unterkuschelten Welt durch eine | |
Umarmung zu entfliehen – ist allein Pallas in der Lage, ihn aus den Fängen | |
dieser Quälgeister zu befreien. Pallas selbst wird so zum Sandro. Er legt | |
den dunklen Hoodie an. Er trägt die bescheuerten Mausohren mit Würde. Und | |
wie schüchtern und ungelenk er auch sein mag: Er wird – genau das bedeutet | |
ja der Name Sandro – zum Beschützer. | |
Ein Superheld, dessen einzige Superkraft seine langen Arme sind. Und dessen | |
Heldentat darin besteht, sichtbar geworden zu sein. Möglicherweise (und die | |
Ambivalenz bewahrt vor der Abdrift in den Kitsch) indem hier jemand laut Ja | |
sagt – zu seiner Psychose. | |
Alice Socal: Sandro. Rotopolpress 2016, 120 Seiten, 18 Euro | |
Beim Comicfestival Hamburg liest Alice Socal am Freitag, 30.9., ab 20 Uhr, | |
in der Hanseplatte, Neuer Kamp 32 | |
21 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
## TAGS | |
Comic | |
Hamburg | |
Deutscher Comic | |
Deutscher Comic | |
Comic | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ausstellung „Die besten deutschen Comics“: Knaller in der Nische | |
Bremen zeigt die wichtigsten deutschen Comics in einer betrüblich | |
randständigen Ausstellung – und verschenkt damit mal wieder eine | |
Gelegenheit zur Profilierung. | |
Versteckte Comictalente: Alles Gute kommt von unten | |
Der Carlsen-Verlag hat den Strips im Norden den Weg bereitet. Doch wer das | |
Abenteuer sucht, muss sich inzwischen im Netz umtun | |
Comic aus Belgien: Ein teuflisch langer Schatten | |
Hinter der bürgerlichen Fassade der Väter tun sich Abgründe auf: „Ein | |
diabolischer Sommer“ widmet sich einem beliebten Nachkriegsgenre. | |
Comics: Neue deutsche Novelle | |
Hamburg ist die heimliche Hauptstadt des Comics: Die Szene an der Elbe | |
arbeitet hart und hat mit Anke Feuchtenberger eine inspirierende | |
Hochschulprofessorin. Wie gut die Hamburger Zeichner sind, ist ab | |
Donnerstag beim internationalen Comic-Festival Hamburg zu sehen. |