# taz.de -- 40 Jahre Centre Pompidou in Paris: Beaubourg, mon amour | |
> Kein anderes Bauwerk wurde mehr gehasst. Kaum ein Kunsttempel wird heute | |
> mehr geliebt. Ein Blick zurück in die Geschichte des Museums. | |
Bild: Im Zentrum der lebendigen Pariser Kunstszene Ende der siebziger Jahre | |
Es ist der kälteste Tag des Jahres 1977, als sich die Pforten des Centre | |
Georges Pompidou zum ersten Mal öffnen. Minus fünf Grad hat es, sieben Grad | |
weniger als an einem normalen Januartag in der französischen Hauptstadt. | |
Die Stimmung ist eisig. Ein kalter Wind treibt Passanten salzige Tränen in | |
die Augen. Und die neue Architektur missfällt. | |
Wer Beaubourg, wie die Franzosen Haus und Museum bald auch nennen, sieht, | |
hat bis heute sofort eine Meinung. Während sich Architekten weltweit mit | |
triumphalen Breitbauten oder hohen, schier in den Boden gerammten Türmen | |
Denkmäler setzen, nutzt Renzo Piano, mit 33 Jahren noch kein Stararchitekt, | |
einen anderen Effekt: die Wucht der Überraschung. Sein Bau überfällt den | |
Flaneur unvorbereitet. | |
In die Skyline der Stadt fügt sich das Museum noch ein, weder besonders | |
hoch ist es, noch umgeben von breiten Alleen, sondern auf einem | |
abschüssigen Platz unweit des Einkaufszentrums Les Halles gelegen. Doch wer | |
zum ersten Mal um eine der engen Straßenecken an der Rue de Denise oder Rue | |
Saint-Martin biegt, dem stockt anhand der kubischen Formen, der puren | |
Farben und der spiegelnden Stahl- und Glasflächen kurz der Atem. | |
Für Zeitgenossen muss das neue Gebäude erst recht so ausgesehen haben, als | |
habe es Fernand Léger bei einem Schlag in die Magengrube spontan | |
ausgehustet. So avantgardistisch die Architektur, so basisdemokratisch ist | |
dagegen die Vision, die den Namensgeber angetrieben hat. | |
## Eines der lebendigsten Kulturzentren der Welt | |
Schon André Malraux hatte als Kulturminister unter Präsident Charles de | |
Gaulle die Idee, den wenig besuchten Palais de Tokyo um ein repräsentatives | |
Museum für die Kunst des 20. Jahrhunderts zu ergänzen. 1971 greift Georges | |
Pompidou, inzwischen zweiter Präsident der fünften Republik, den Gedanken | |
auf und setzt ihn um. Aus fast 700 Einreichungen wird der Entwurf des | |
jungen Trios Renzo Piano, Richard Rogers und Gianfranco Franchini | |
ausgewählt. Im Jahr darauf beginnen die Bauarbeiten. Die Eröffnung erlebt | |
Pompidou selbst nicht, der Bau wird sein Vermächtnis. | |
Aus einem fast 20 Meter tiefen Loch wächst innerhalb von fünf Jahren | |
Stockwerk für Stockwerk, ein für alle Bildungsinteressierten offener | |
Kunsttempel vierzig Meter in die Höhe. Neben der modernen Sammlung werden | |
ein Institut für elektroakustische Forschung, eine Bibliothek und Kinos | |
untergebracht. | |
Die amerikanische Kulturszene ist dabei, sich neu zu sortieren: 1977 ist | |
das Jahr, in dem Jenny Holzer nach New York City ziehen und anfangen wird, | |
sich mit Text als Kunstform zu befassen. 1977 ist auch das Jahr, in dem | |
Jean-Michel Basquiat, noch nicht ganz volljährig, zurück nach Brooklyn | |
kommen wird. Frankreich ist kurz nach den Studentenunruhen eines der | |
lebendigsten Kulturzentren der Welt. | |
Der spanische Maler Pablo Picasso ist gerade vier Jahre tot, gestorben 900 | |
Kilometer südlich von Beaubourg nahe der Cote d’Azur. Die französischen | |
Charts führen vier Schweden an: Abba singt über „Money, Money Money“. Geld | |
geht in den Wirtschaftswunderjahren und nach der ersten von zwei Ölkrisen | |
vor. Marguerite Duras lebt in Paris, Roland Barthes, Samuel Beckett. Simone | |
de Beauvoir hat ihr Werk schon weitgehend abgeliefert und pflegt den schwer | |
kranken Sartre, der zu blind ist, um noch zu schreiben – nicht aber, um | |
RAF-Mitglied Andreas Baader im Gefängnis zu besuchen. | |
## Kriegsgeneration und rebellische Studenten | |
Wer Angst vor Wandel, Tod und Neubeginn hat, ist in Paris in dieser Zeit | |
nicht richtig. Der Krieg ist Thema der Kunst oder explizit nicht. Wer jetzt | |
zur treibenden Generation gehört, hat oft frühe, emotionale | |
Kindheitserinnerungen an Bombeneinschläge. | |
Zwei Alterskohorten der wichtigsten Kulturschaffenden treffen aufeinander, | |
Kriegsgeneration und rebellische Studenten, und schreiben gemeinsam | |
Stadtgeschichte. Wer später „der Urvater von …“ oder „die große Dame … | |
werden sollte, eigensinnig, genial, widerspruchsfreudig, lebt heute in | |
Paris. | |
Der internationale, besonders der angloamerikanische Einfluss der | |
Nachkriegsgeneration ist in der französischen Hauptstadt spürbar. Gertrude | |
Stein, Ernest Hemingway, Ezra Pound, Francis Scott und Zelda Fitzgerald | |
haben den Beat der Stadt geprägt, den Beaubourg nun so perfekt trifft: | |
Nirgends sonst wird dramatischer gehasst und leidenschaftlicher geliebt als | |
in Paris, erzählt man sich, und am liebsten abwechselnd. | |
## Dialog statt Event | |
Rund um den 40. Geburtstag füllt kein französischer Künstler die Räume im | |
Obergeschoss, dort, wo man ganz Paris überblicken und erspüren kann, auf | |
gleicher Ebene, nicht von oben herab, wie von diversen Bögen und Türmen der | |
Stadt. 140 Werke von Cy Twombly werden gezeigt – mehr als je zuvor, und die | |
erste komplette Retrospektive nach dem Tod des amerikanischen | |
Expressionisten. | |
Amor hängt neben Venus. Moderne Kunst kommuniziert mit Antike. Mythologie, | |
Erzählung und darstellende Kunst schließen gleichauf. Weiß gestrichenes | |
Treibholz liegt in stiller Größe auf den weißen Sockeln. | |
Wie überall in Beaubourg tritt die Inszenierung bewusst hinter den Objekten | |
zurück. Unspektakulär gleichwertig hängt eine Etage tiefer Bauhaus neben | |
Kubismus. Kunst darf hier beiläufig sein. Und Kunst darf sich sogar | |
anbiedern: Mit großen Namen und publikumsträchtigen Schauen wie zu Salvador | |
Dalí, Henri Matisse, Edvard Munch, Jeff Koons [1][wirbt das Museum um | |
Besucher.] 2017 wird David Hockney folgen. Mehr als drei Millionen Menschen | |
kommen pro Jahr. | |
## Mit konventionellen Gedanken brechen | |
Ganz oben bricht zusätzlich ein Bar-Restaurant mit jeder allzu ätherischen | |
Vorstellung eines Musentempels. Dort geht es nicht mehr ganz so posh zu wie | |
noch vor einigen Jahren, als Models in Highheels Tablette balancierten, | |
aber Kunst und Kommerzkultur zu mischen – das klappt. Bis 23 Uhr hat das | |
Museum auf. Bloody Mary, Braque und Blick über das nächtliche Paris sind | |
Einzelelemente desselben Konzepts, das man in Frankreich wohl weniger | |
„Eventkultur“ nennen würde als vielmehr „Dialog“ verschiedener Sphäre… | |
Ein Dialog, der allerorten weitergeführt wird: Bis 2018 beteiligen sich | |
weltweit Kulturinstitutionen in 40 Städten an den Feierlichkeiten – | |
Grenoble, Lille, Nizza, aber auch Le François auf der Südseeinsel | |
Martinique – mit Tanz, Theater und gesellschaftspolitischen Debatten zu | |
Fragen wie etwa der, was „gemeinsam“ oder „Gemeinschaft“ heute noch | |
bedeutet. | |
Auf diese Frage hat die französische Hauptstadt vor vierzig Jahren eine | |
Antwort gefunden: mit konventionellen Gedanken brechen, Offenheit leben, | |
Konservatismus und Freizügiges gleichermaßen hinterfragen. Und Paris wäre | |
nicht Paris, wenn die anfänglich so frostige „amour fatal“ zur | |
„Kunstfabrik“ nicht längst zur kollektiven Identität geworden wäre, zum | |
Patrimoîne, zum gelebten Erbe. | |
5 Mar 2017 | |
## LINKS | |
[1] https://www.centrepompidou.fr/ | |
## AUTOREN | |
Johanna Schmeller | |
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