| # taz.de -- Lieblingsstück 2022: Comic-Katze Willis und der blaue BH | |
| > Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zeigte Kunst des „Arabischen | |
| > Frühlings“. Die Ausstellung verdeutlicht, welche Kraft Street-Art | |
| > entfesselt. | |
| Bild: Die „Mask of Freedom“ des Künstlers Ganzeer | |
| An den Beginn der Proteste in Tunesien erinnere ich mich noch vage: | |
| Unentwegt telefonierte mein Vater mit seinen Geschwistern. Mal fluchend, | |
| mal zitternd und stets in Sorge, es könnten schlechte Nachrichten sein, die | |
| ihn aus seiner Heimat erreichen. | |
| Elf Jahre später stehe ich mit ihm in einem schmalen Flur im Hamburger | |
| Museum für Kunst und Gewerbe (MK&G). Der [1][Arabische Frühling] ist | |
| angekommen: „Be with the Revolution“ steht an der Wand, darunter | |
| Erklärtexte auf Arabisch, Deutsch und Englisch. | |
| Zentrales Thema der Ausstellung: Wie sich Kunst politisierte, sich im | |
| urbanen Raum verbreitete, aber gerade auch im Internet verbreitet – und | |
| welche Rolle sie dabei hatte, die bestehenden Herrschaftssysteme zu | |
| stürzen. | |
| Zu sehen sein wird „Be with the Revolution“ nur hier im MK&G, es ist keine | |
| irgendwo konzipierte Wechselausstellung. Kurator [2][Tobias Mörike hat | |
| dafür Arbeiten nicht nur aus der arabischen Welt] zusammengetragen, von | |
| Künstlern aus Ägypten, dem Libanon, Frankreich, Tunesien – aber auch aus | |
| Palästina, Hamburg und Berlin. | |
| Ein Teil der Street-Art ist als Foto präsentiert, fotografiert an Wänden in | |
| Kairo zum Beispiel. Einen weiteren Teil reproduzierten Hamburger Künstler | |
| nun in Absprache mit den Erschaffern der Originale. | |
| Etwa die „Mask of Freedom“: ein Aufkleber, auf dem ein maskuliner | |
| Oberkörper abgebildet ist; ein geknebelter Mund, verbundene Augen. Dazu | |
| Text auf Arabisch, frei ins Deutsche übersetzt: „Neu! DIE MASKE DER | |
| FREIHEIT! Der Oberste Rat der Streitkräfte grüßt die Söhne der geliebten | |
| Nation. Jetzt zeitlich unbegrenzt verfügbar.“ Für das Kleben des Stickers, | |
| [3][schreibt Künstler Ganzeer auf seiner Internetseite], sei er im Mai 2011 | |
| von der ägyptischen Militärpolizei verhaftet worden. | |
| Oder der „Blue Bra“. Ebenfalls 2011 [4][misshandelten ägyptische Militärs | |
| eine Demonstrantin] und wurden dabei fotografiert: Zwei Soldaten schleiften | |
| die Demonstrantin über den Tahrir-Platz in Kairo, ihr Kleid verrutschte, | |
| ihren Oberkörper bedeckte nur noch ein blauer BH. Der wurde in Ägypten zu | |
| einem Symbol, das Foto befeuerte den Feminismus, inspirierte Künstlerinnen | |
| und Künstler. | |
| So wie Bahia Shehab: Sie bezieht sich mit ihrem Graffito auf das | |
| weltbekannt gewordene Foto. Für das MK&G fertigte der Hamburger Künstler | |
| Tona eine Schablone ihres Graffitos an. | |
| Mich beeindruckt, welche Kraft Street-Art entfesselt hat. Diktatoren wurden | |
| entmachtet durch Protest, der im Kleinen begann: mit Graffiti, | |
| Internet-Memes oder Witzen im Comicstil. Nehmen wir [5][Willis, eine | |
| Comic-Katze] der tunesischen Illustratorin Nadia Khiari. | |
| Geboren wurde das Tier auf dem Papier im Januar 2011 während der | |
| Ausgangssperren, die Diktator Zine el-Abidine Ben Ali verhängt hatte. Sie | |
| sagt zu einer deprimierten Katze: „Il faut faire confiance à l’état“, | |
| übersetzt: „Es braucht Vertrauen in den Staat.“ Die Katze lacht. Mein | |
| Vater, der Museumsmuffel, auch. | |
| 6 Jan 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Zehn-Jahre-Arabischer-Fruehling/!t5007858 | |
| [2] /!5480946/ | |
| [3] https://ganzeer.com/7-Things-I-have-Learned-From-the-Mask-of-Freedom | |
| [4] https://edition.cnn.com/2011/12/22/opinion/coleman-women-egypt-protest/inde… | |
| [5] https://www.cartooningforpeace.org/en/dessinateurs/willis-from-tunis/ | |
| ## AUTOREN | |
| Malek Tellissi | |
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