| # taz.de -- Protest von Tunesien bis Libanon: Die Frau mit dem Megafon | |
| > In Tunesien nahm sie 2011 erstmals ein Megafon in die Hand. Auch zehn | |
| > Jahre später protestiert Roula Seghaier noch für die Frauenrechte in | |
| > Libanon. | |
| Bild: Frauenproteste in Libanons Hauptstadt Beirut, November 2019. Mit dabei: R… | |
| Beirut taz | An dem Abend, als in Libanon [1][Regierungschef Hariri seinen | |
| Rücktritt] erklärt, läuft Roula Seghaier mit Megafon vom Platz vor dem | |
| Parlamentsgebäude in der Beiruter Innenstadt Richtung Märtyrerplatz. Mal in | |
| der ersten, mal in der zweiten oder dritten Reihe, ruft sie in das Mikro am | |
| Megafon: „Wir sind die Revolution der Leute, ihr seid nur Diebe!“, | |
| klatschend zu Trommelschlägen oder mit erhobenen Fäusten in dem Protestzug | |
| von Frauen. Sie ist groß und wirkt selbstsicher, für Außenstehende | |
| vielleicht sogar einschüchternd mit der Energie, die sie ausstrahlt und den | |
| pointierten Kommentaren über politisch blinde Flecken, die sie entlarvt und | |
| auf die sie mit Slogans durch das Megafon antwortet. | |
| Das war am 29. Oktober 2019. Hariri ist mittlerweile wieder [2][zurück auf | |
| dem Posten] und die vielen Forderungen der Protestierenden sind nicht | |
| erfüllt. Aber Seghaiers Megafon steht noch immer auf dem Regal in ihrem | |
| Zimmer, bereit für die nächste Demo. | |
| Für ihren ersten Protest hat Seghaier ihren Schulabschluss riskiert. | |
| Damals, im Januar 2011, war sie gerade 18 Jahre jung und eine der letzten, | |
| die sich der Revolutionsbewegung in Tunesien angeschlossen hatten. Denn | |
| Seghaier lebte in der Hafenstadt Sousse – der Stadt, aus der die | |
| Präsidentenfamilie stammte. | |
| „Ich war sehr frustriert: Wie kommt es, dass wir zur Schule gehen, wenn das | |
| ganze Land revoltiert? Und wir tun so, als ob wir auf einem anderen | |
| Planeten lebten“, erzählt sie. „Also kaufte ich einen Lautsprecher und | |
| dachte, wir könnten vor der Schule protestieren.“ Doch die anderen kniffen. | |
| Sie hatten zu viel zu verlieren, denn der Schuldirektor gehörte dem Regime | |
| an. „Sie hatten große Angst, dass wir von der Schule fliegen.“ | |
| ## Kein Zurück mehr | |
| Es frustrierte sie, dass es keine Solidarität gab. „Ein Mädchen sagte zu | |
| mir: Was haben die Proteste mit uns zu tun? Und ich fand das einen sehr | |
| privilegierten Diskurs.“ Also zog Seghaier an die Nachbarschule. „Ich | |
| dachte: An der anderen Schule sind Menschen, die aufgrund von Armut und | |
| strukturellen Barrieren lieber einen Handwerksberuf erlernen.“ | |
| Also protestierte Seghaier mit der Jugend an der Fachschule. „Die | |
| Zivilpolizei machte mich als Aufwieglerin von außen aus. Dann zitierte mich | |
| der Direktor meiner Schule in sein Büro. Ich wusste nicht, was ich sagen | |
| sollte, also habe ich gesagt, er sollte mit mir rausgehen, um zu | |
| protestieren.“ | |
| Für Seghaier war dies der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab. In den | |
| folgenden zwei Wochen fuhr sie regelmäßig zum Protestieren in die | |
| Hauptstadt Tunis. Als [3][Ben Ali gestürzt], der Direktor nicht mehr im Amt | |
| und die Schulen wieder offen waren, wurde Seghaier bekannt als „die Frau | |
| mit dem Megafon“. | |
| Ihre Mutter ist geborene Russin, ihr Vater Tunesier. Seghaier verbrachte | |
| ihre ersten sieben Lebensjahre in Russland, bevor sie mit ihren Eltern nach | |
| Tunesien kam. Im August 2011 bekam sie ein Stipendium und studierte | |
| Politikwissenschaft, transnationale Gerechtigkeit und Menschenrechte an der | |
| Amerikanischen Universität Beirut. Dafür zog sie nach Libanon – wo sie bis | |
| heute lebt. | |
| ## Als Aufwieglerin diffamiert | |
| „Ich bin also 18 Jahre alt, habe all diese romantischen Vorstellungen von | |
| Pluralität und Meinungsfreiheit. Und als ich am Flughafen in Beirut | |
| ankomme, steigen dort äthiopische Frauen aus einem Flugzeug. Ich sehe, wie | |
| die Sicherheitsbeamten ihnen die Reisepässe abnehmen, sie alle in einen | |
| kleinen Raum bringen und nicht mal auf die Toilette lassen. Ich landete | |
| also in einem Land, in dem Menschen zum Arbeiten einreisen und so | |
| schrecklich behandelt werden. Das hat mich entsetzt.“ | |
| Im Jahr 2012 startete Seghaier die „Task Force“ für ausländische | |
| Arbeiter*innen, lehrte Englisch oder gab Computerunterricht. Sie schloss | |
| sich einer feministischen Kooperative an, protestierte jedes Jahr am | |
| internationalen Frauenkampftag oder am Tag der Arbeit. Als Freiwillige | |
| arbeitet sie bei einer Hotline für Sex und Sexualität. | |
| Die Verbindung zwischen den einzelnen Forderungen sieht sie in der | |
| Gesellschaftsstruktur. Als Beispiel nennt sie die Zivilehe – denn in | |
| Libanon können nur Menschen derselben Religionszugehörigkeit heiraten. „Die | |
| standesamtliche Ehe in Libanon zu fordern, interessierte mich erst mal | |
| nicht. Aber dann habe ich verstanden, dass es derselbe Grund ist, warum | |
| ausländische Arbeiter*innen keine Kinder kriegen sollen oder | |
| libanesische Mütter ihre Staatsbürgerschaft nicht an ihre Kinder | |
| weitergeben dürfen: Alles hängt damit zusammen, wie die Regierung über | |
| Demografie entscheidet und bestimmt, wer heiraten darf, papierlos bleibt, | |
| abtreiben darf oder das Bleiberecht bekommt. Die Regierung produziert | |
| Ungerechtigkeit durch unseren Körper, und wir können dafür kämpfen, sie | |
| abzubauen.“ | |
| Als im Oktober 2019 die [4][Massenproteste in Libanon] losgingen, war | |
| Seghaier ständig auf der Straße, schrieb an den Slogans. „Einige sind | |
| richtig populär geworden“, sagt sie stolz. Wegen des Blockierens von | |
| Straßen, Organisierens von Treffen und Gewaltanstiftung lud die Polizei sie | |
| vor. „Letztendlich ging es aber darum, dass ich Ausländerin bin.“ Schon | |
| wieder wurde sie als Aufwieglerin von außen diffamiert. „Der Typ sagte: | |
| ‚Wenn du es hier nicht magst, dann geh doch!‘ Aber natürlich gehe ich in | |
| Solidarität auf die Straße. Und nicht nur das: Es geht um die Vision von | |
| Gerechtigkeit.“ | |
| Die heute 29-Jährige ist leidenschaftlich, neugierig und mag es, | |
| herausgefordert zu werden. Aber: „Wenn du mich auf der Straße bei Protesten | |
| siehst, dann gibt es das falsche Bild ab, dass ich couragiert bin. Aber ich | |
| kann das Gefühl der Machtlosigkeit nicht ertragen. Ich werde oft daran | |
| erinnert, wie wenig Raum wir für unsere Erfahrungen und Stimmen bekommen, | |
| und das macht mich wütend. Diese Wut hilft mir, mich mit anderen zu | |
| organisieren und Raum einzufordern, in dem ich mich ausdrücken kann.“ | |
| 17 Dec 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Nach-Sozialprotesten/!5633780 | |
| [2] /Libanon-in-der-Krise/!5723007 | |
| [3] /Tunesischer-Praesident-Ben-Ali-zurueckgetreten/!5128661 | |
| [4] /Sozialproteste-im-Libanon/!5632044 | |
| ## AUTOREN | |
| Julia Neumann | |
| ## TAGS | |
| Feminismus | |
| Zehn Jahre Arabischer Frühling | |
| Tunesien 2011 | |
| Tunesien | |
| Frauenrechte | |
| IG | |
| Zehn Jahre Arabischer Frühling | |
| Heinrich-Böll-Stiftung | |
| Demonstration | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Tunesien | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Zehn Jahre Arabischer Frühling | |
| Zehn Jahre Arabischer Frühling | |
| Tunesien | |
| Libanon | |
| Libanon | |
| Schwerpunkt Korruption | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Lieblingsstück 2022: Comic-Katze Willis und der blaue BH | |
| Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zeigte Kunst des „Arabischen | |
| Frühlings“. Die Ausstellung verdeutlicht, welche Kraft Street-Art | |
| entfesselt. | |
| Tunesische Anwältin Yosra Frawes: Preisverdächtiger Feminismus | |
| Yosra Frawes ist Juristin und Menschenrechtsaktivistin. Nun wird sie mit | |
| dem Anne-Klein-Frauenpreis der Heinrich-Böll-Stiftung ausgezeichnet. | |
| Frauenbewegung in Deutschland: Schlendernd zum Protest | |
| Wenn Frauen in anderen Ländern für ihre Rechte auf die Straße gehen, finden | |
| das viele bewundernswert. Doch hier passiert – ziemlich wenig. Warum nur? | |
| Proteste im Libanon: Ein Toter, mehr als 200 Verletzte | |
| Bei Protesten gegen die Coronabeschränkungen kommt es in Tripoli seit Tagen | |
| zu schweren Ausschreitungen. Ein Demonstrant erlag seinen Verletzungen. | |
| Justiz in Tunesien: Unberührt von der Revolution | |
| Vieles hat sich seit dem Sturz Ben Alis im Januar 2011 verändert. Doch das | |
| Verhältnis zwischen Bürger und Staat bleibe gestört, sagen Aktivisten. | |
| Bootsunglück vor tunesischer Küste: Bisher 20 Leichen geborgen | |
| Noch ist die Gesamtzahl der Opfer unklar. Das Boot mit 45 Menschen an Bord | |
| sei am Heiligabend schon mit Schräglage in Sfax gestartet, berichten | |
| Augenzeugen. | |
| Tunesien und die EU: Knallharte Interessen | |
| Brüssel, Paris und Berlin unterstützen den Übergang zur Demokratie in | |
| Tunesien. Sie drängen das Land, seinen Markt für EU-Unternehmen zu öffnen. | |
| Experte über EU und arabische Staaten: „Europa braucht Hard Power“ | |
| Mehr europäisches Militär? Daran kommt nicht vorbei, wer die Lehren aus dem | |
| Arabischen Frühling ernst nimmt, meint Asiem El Difraoui. | |
| Zehn Jahre Arabische Revolution: Wo der Jasmin verdorrt | |
| Die Kräfte der Restauration sind zurück in Tunesien. Wie sich | |
| Caféhausbesitzer Kais Bouazizi wehrt und warum in einer Oase die Revolution | |
| gesiegt hat. | |
| Libanon in der Krise: Hariri kommt zurück | |
| Vor einem Jahr trat er nach Massenprotesten ab. Nun soll im Libanon niemand | |
| anderes als Saad al-Hariri erneut eine Regierung bilden. | |
| Wiederaufbau nach Explosion in Beirut: Militär und Polizei fehlen | |
| Während die Menschen Steine schleppen, ist der Staat beim Wiederaufbau | |
| abwesend. Bald könnte sich das ändern – aber die Libanes*innen trauen | |
| ihm nicht. | |
| DJ Rabih Beaini zu Explosion in Beirut: „Libanons BürgerInnen aufrütteln“ | |
| Die Proteste nach der Explosion in Beirut gingen von der Kulturszene aus. | |
| Der DJ Rabih Beaini über Korruption und Wiederaufbau in seinem Heimatland. |