# taz.de -- Justiz in Tunesien: Unberührt von der Revolution | |
> Vieles hat sich seit dem Sturz Ben Alis im Januar 2011 verändert. Doch | |
> das Verhältnis zwischen Bürger und Staat bleibe gestört, sagen | |
> Aktivisten. | |
Bild: Unzufriedenheit in Sidi Bouzid, hier im Dezember 2020 | |
TUNIS taz | Das Gedenken an den Sturz von Tunesiens Langzeitherrscher Ben | |
Ali vor zehn Jahren findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Wegen | |
der stark gestiegenen Zahl der [1][Corona]-Neuinfektionen und landesweit | |
überfüllten Intensivstationen hat Gesundheitsministerin Habiba Zehi Ben | |
Romdhane ab Donnerstag einen viertägigen Lockdown angeordnet. Alle für den | |
14. Januar, den Jahrestag der Revolution, geplanten Veranstaltungen sind | |
abgesagt. | |
Besondere Enttäuschung herrschte am Mittwoch bei einer Gruppe von | |
Demonstranten, die sich seit Tagen auf der Straße vor einem der Büros von | |
Premierminister Hichem Mechichi trifft. Die Initiative, die sich „Verletzte | |
der Revolution“ nennt, fordert mit ihrem Sitzstreik, endlich offiziell als | |
Opfer der Polizeigewalt im Januar 2011 anerkannt zu werden. Nach den | |
damaligen Ereignissen hatten die Behörden die Zahl der Opfer der | |
sogenannten [2][Jasminrevolution] auf 338 Tote und 2.147 Verwundete | |
beziffert. Polizei und Armee hatten vor allem in den Provinzstädten | |
Kasserine und Sidi Bouzid mit scharfer Munition auf die meist jungen | |
Demonstranten geschossen. | |
Nach der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi im Dezember | |
2010 waren Hunderttausende Tunesier auf die Straße gegangen und hatten | |
Meinungsfreiheit, Arbeit und Demokratie gefordert. [3][In den Folgejahren | |
blieb Tunesien wegen der Kompromissbereitschaft der politischen Gegner ein | |
Bürgerkrieg erspart]. Eine neue säkulare Verfassung im Jahr 2014 machte das | |
11-Millionen-Einwohner-Land zum Erfolgsmodell des Arabischen Frühlings. | |
Doch in der Justiz sowie bei der Polizei änderte sich wegen der ständigen | |
Terrorgefahr wenig. | |
Die Opfer des Aufstands auf der Avenue de la Liberté, der Straße der | |
Freiheit, in Tunis beklagen, dass bisher kein Beamter für die Gewalt gegen | |
die Demonstranten angeklagt worden ist. Der politische Aktivist Wissam | |
Shgaiger glaubt, dass im Innenministerium immer noch der Chorgeist der | |
Ben-Ali-Zeit herrscht und dass zahlreiche Anschläge von Islamisten Reformen | |
und damit auch eine Aufarbeitung der Ereignisse von 2011 verhindert haben. | |
„Ich unterstütze die Forderungen der Demonstranten nach einer offiziellen | |
Anerkennung ihres Status“, sagt Shgaiger. „Es geht hier um das immer noch | |
gestörte Verhältnis zwischen Bürger und Staat.“ | |
Einige der rund 100 Menschen vor dem Büro des Premierministers stützen sich | |
auf Krücken. Zu einer Pressekonferenz in einem nahe gelegenen Hotel wird | |
über ein Dutzend in Rollstühlen die Treppe hochgetragen. Grund des Protests | |
ist, dass die staatliche Kommission für Menschenrechte und Freiheit seit | |
Oktober 2019 nur noch 129 Tote und 634 Verletzte als Opfer der Revolution | |
anerkennt. | |
Einige der Demonstranten haben mit Benzin gefüllte Glasflaschen | |
mitgebracht. Sie sagen es nicht laut, aber die Drohung liegt in der Luft, | |
dass sich jemand aus der Gruppe selbst anzünden könnte – so wie es Mohamed | |
Bouazizi vor zehn Jahren tat. Als Protest gegen die Konfiszierung seiner | |
Ware hatte der damals 27-jährige Gemüsehändler an einer Tankstelle Benzin | |
gekauft, sich übergossen und angezündet. | |
## Theater im Gefängnis | |
„Für viele junge Tunesier hat sich seitdem nicht viel geändert. Sie haben | |
keine Arbeit und geraten schon wegen leichter Vergehen ins Visier der | |
Polizei. Das löst einen Teufelskreis aus, der zu Radikalisierung und | |
Migration führt.“ Omar Ben Amor wählt seine Worte mit Bedacht. Mit seiner | |
Bürgerinitiative NASBA hilft der Choreograf und Tänzer verurteilten | |
Straftätern, zurück in die Gesellschaft zu kommen. In einem Gefängnis von | |
Tunesiens Wirtschaftsmetropole Sfax, rund 250 Kilometer südlich von Tunis, | |
lässt Ben Amor die Insassen Theaterstücke einüben und gibt Kunstunterricht. | |
„Die Zustände hinter den Mauern sind wohl dramatischer als vor der | |
Revolution. In einigen Zellen gibt es nur 45 Betten für 100 Insassen“, sagt | |
Ben Amor, der immerhin das Innenministerium überzeugen konnte, sein Projekt | |
zu unterstützen. Und wer nach einer Schlägerei oder fürs Kiffen verurteilt | |
werde, komme zusammen mit aus Syrien zurückgekehrten Islamisten in eine | |
Zelle. | |
Menschenrechtsaktivisten wie Ben Amor kritisieren, dass neben ehemaligen | |
Straftätern auch von den Sicherheitskräften eigenmächtig ausgewählte | |
Verdächtige als Gefährder der nationalen Sicherheit geführt werden – unter | |
dem berüchtigten Kürzel S17. Der seit 2011 fast durchgehend geltende | |
Ausnahmezustand macht dies möglich. Die genaue Zahl der unter S17 geführten | |
Tunesier ist unbekannt, dürfte jedoch über 100.000 liegen. Organisationen | |
wie Amnesty International [4][fordern] seit Jahren ein Ende dieser | |
Willkürpraxis des Innenministeriums. | |
„Wer einmal im Gefängnis saß oder unter S17 geführt wird, hat kaum eine | |
Chance auf eine Mietwohnung und findet nur informelle Jobs ohne Vertrag“, | |
sagt Ben Amor. „Wir wollen mit unserer Initiative die Öffentlichkeit über | |
dieses Unrecht aufklären, um eine Radikalisierung zu verhindern.“ | |
Die Demonstranten in Tunis wollen nach dem Lockdown am kommenden Montag | |
wiederkommen. „Bis wir endlich als Opfer anerkannt werden“, sagt ein Mann, | |
der sein Bein 2011 durch eine Polizeikugel verlor. „Wir wollen, dass die | |
Revolution endlich Polizei und Justiz erreicht.“ | |
14 Jan 2021 | |
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[4] https://www.amnesty.de/jahresbericht/2018/tunesien | |
## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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