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# taz.de -- Zehn Jahre Arabischer Frühling: Ins Rollen gekommen
> Im arabischen Raum sind Autokraten und Herrschereliten unter Druck
> geraten. Viele stürzten, andere bekämpften die Bevölkerung. Ein
> Überblick.
Bild: Tunesien 2011: Bilder wie dieses verbreiteten sich im gesamten arabischen…
In Nahost und Nordafrika ist politisch nichts mehr wie vor zehn Jahren.
Sechs Diktatoren wurden seit Beginn des sogenannten [1][Arabischen
Frühlings] im Dezember 2010 nach Massenprotesten gestürzt, etliche
Regierungen zum Rücktritt gezwungen. Doch kein Land gleicht dem anderen,
hier der Überblick:
## Die Vorreiter
Das politische Vorzeigeland des Arabischen Frühlings ist bis heute
Tunesien. Auf den Januar 2011 nach Massenprotesten gestürzten Zine El
Abidine Ben Ali folgte kein neuer Diktator. Stattdessen wurde das System
durch eine fehleranfällige, aber institutionell funktionierende Demokratie
ersetzt.
Zuletzt wurde im Oktober 2019 der Jurist Kaïs Saïed zum Präsidenten
gewählt. Die Islamisten der Partei Ennahda haben sich in den demokratischen
Prozess einbinden lassen und halten sich an die Spielregeln. Dennoch: Die
Hoffnungen der Menschen auf ein besseres Leben haben sich nicht erfüllt,
die Wirtschaft liegt am Boden. [2][(Lesen Sie hier unsere Reportage aus dem
ländlichen Tunesien)]
Riesenhoffnung, dann große Ernüchterung: So lautet das aktuelle Fazit der
Revolution in Ägypten. Auf den Rücktritt des Diktators Husni Mubarak im
Februar 2011 nach wochenlangen Massenprotesten, die direkt nach dem Umsturz
in Tunesien begonnen hatten, folgte eine demokratische Öffnung mit freien
Wahlen. Diese brachten 2012 die Muslimbrüder unter Mohammed Mursi in die
Regierung, wenn auch nicht wirklich an die Macht.
Das Militär unter Abdel Fattah al-Sisi putschte sich 2013 zurück an die
Staatsspitze, nachdem es zu neuen Massenprotesten gekommen war, diesmal
gegen den frei gewählten Mursi. Heute regiert al-Sisi mindestens [3][so
autoritär wie einst Mubarak]. Islamist*innen, Aktivist*innen und
Journalist*innen sitzen im Gefängnis; meist lautet der Vorwurf
„Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe“ oder „Verbreitung falscher
Nachrichten“.
***
## Die Bremser
Das Regime in Saudi-Arabien hat sich als entschiedener Gegenspieler der
revolutionären Kräfte positioniert – nicht nur im eigenen Land, sondern in
der gesamten Region. Im Inland hat Kronprinz Mohammed bin Salman zwar
gesellschaftliche Reformen eingeleitet, politische Mitsprache duldet er
aber nicht.
Im arabischen Ausland unterstützt er aktiv die Konterrevolution: In Sudan
sagte Saudi-Arabien – zusammen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten –
den Vertretern des Militärs Unterstützung zu und schnürte ein Hilfspaket,
an Demokratisierung unter einer zivilen Führung zeigen die Golfmonarchen
aber keinerlei Interesse.
Das hatte sich schon weiter nördlich am Nil gezeigt: Auch Ägyptens
restauriertes Militärregime genießt volle Unterstützung aus Riad. Es gibt
sogar starke Hinweise darauf, dass die Saudis – wieder zusammen mit den
Emiraten – die ägyptische Protestbewegung Tamarrod finanzierten, die 2013
dem Militär den Vorwand lieferte, die Macht wieder an sich zu reißen.
Tamarrod hatte der Diktatur al-Sisis zumindest anfänglich einen Hauch von
Legitimität verliehen.
Auch in Bahrain, das 2011 als einziger Golfstaat eine für die
Herrscherfamilie gefährliche Protestwelle erlebte, ist keine weitere
Revolte in Sicht. Warum der Aufstand damals scheiterte? Saudi-Arabien hatte
Truppen ins Nachbarland geschickt, die die Proteste gewaltsam
niederschlugen. Damit war klar: In den Monarchien der Arabischen Halbinsel
wird jeglicher Protest schon im Keim erstickt.
***
## Die Spätzünder
Das Jahr 2019 brachte eine zweite Welle des Arabischen Frühlings mit sich.
In Sudan brachten monatelange Massenproteste im April den langjährigen
Diktator Omar al-Bashir zu Fall. Zivile Kräfte und Militär führen nun
gemeinsam eine Übergangsregierung, mit Abdel Fattah al-Burhan als
Übergangspräsidenten und Abdallah Hamdok als Premierminister. Die Regierung
versucht die bewaffneten Konflikte Sudans zu befrieden und die
katastrophale Wirtschaftslage zu verbessern, und sie soll Wahlen für das
Jahr 2022 vorbereiten.
Fast gleichzeitig brachten die Massen auch in Algerien den
Langzeitherrscher Abdelaziz Bouteflika zu Fall. Im Dezember 2019 wurde
Abdelmadjid Tebboune zum neuen Staatschef gewählt, der allerdings als
Vertreter des alten Regimes gilt. Grundlegende politische Reformen, wie die
Protestbewegung Hirak sie fordert, sind ausgeblieben. Auch die
Menschenrechtslage bleibt katastrophal.
Auch in Libanon und in Irak rumort es. Beide leiden nicht unter einer
klassischen Diktatur, sondern unter einem komplizierten Geflecht aus
korrupten und stark konfessionell geprägten Politikereliten, die
politischen und ökonomischen Stillstand produzieren. In Libanon folgte 2019
auf Massenproteste der Rücktritt der Regierung, doch derzeit sieht es so
aus, als würde sich die alte Clique mit teils neuen Gesichtern in der
ersten Reihe an der Macht halten. Selbst die Riesenexplosion im Hafen von
Beirut im August leitete keinen Wandel ein. [4][(Lesen Sie hier ein Porträt
einer Aktivistin in Libanon)]
In Irak hat sich, seit die USA 2003 Saddam Hussein stürzten und das Land
besetzten, kein neuer Diktator etabliert. Der Staat stand am Rande des
Zerfalls: Im Norden regiert eine kurdische Autonomieregierung, im
Zentrum nutzten Dschihadisten die Instabilität und der „Islamische
Staat“ (IS) machte sich breit. Die Zentralregierung bleibt schwach und
steht unter dem Druck Irans. 2019 kam es zu Massenprotesten, ohne
politische Folgen.
## Die Kriegsländer
In drei Ländern hat der anfänglich friedliche Protest zu Kriegen mit
Hunderttausenden Toten geführt. Libyen war 2011 nach dem Umsturz in
Tunesien und Ägypten das dritte nordafrikanische Land, dessen Diktator
unter Druck der Straße kam. Aber Muammar al-Gaddafi schlug anders als Ben
Ali und Mubarak sofort mit Gewalt zurück, die Opposition organisierte sich
militärisch.
Nato-Unterstützung führte zwar die Rebellen ab August 2011 an die Macht und
Gaddafi wurde bei Kämpfen getötet, doch seitdem ist das Land zwischen
rivalisierenden Machtzentren in West und Ost gespalten. 2019 spitzte sich
der Bürgerkrieg zu, ausländische Mächte griffen ein. Derzeit schweigen die
Waffen.
In Jemen spielt sich der Hauptkonflikt zwischen Huthi-Rebellen und der aus
Sanaa nach Südjemen vertriebenen Regierung von Präsident Abed Rabbo Mansur
Hadi ab. Erstere genießen Unterstützung aus Iran, während für die Regierung
Hadi eine Militärallianz unter saudischer Führung Krieg führt. Aber im
Süden wollen Separatisten das alte Südjemen wiedergründen; sie werden von
den Emiraten unterstützt. Jemens Diktator Ali Abdullah Saleh wurde zu
Beginn des Kriegs gestürzt und später getötet.
Bleibt Syrien: Hier gab es nach dem Umsturz in Tunesien und Ägypten im Jahr
2011 ebenfalls Massenproteste, ebenso wie in Libyen schlug Diktator Baschar
al-Assad mit brutaler Gewalt zurück, aber anders als in Libyen schauten
Europa und die USA in Syrien zu, als die Protestbewegung zerschlagen wurde
und in zahlreiche bewaffnete Gruppen zerfiel.
Nach Hunderttausenden Toten griff Russland ab 2015 mit Truppen und
Kampfjets ein und wendete einen Sturz des Regimes Assad ab. Momentan sieht
es so aus, als würde Syrien zwar als Staat erhalten bleiben, das
russisch-iranisch unterstützte Folterregime Assads aber nicht loswerden.
Die Hälfte der Bevölkerung ist inner- oder außerhalb des Landes auf der
Flucht.
17 Dec 2020
## LINKS
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[4] /Protest-von-Tunesien-bis-Libanon/!5737303
## AUTOREN
Jannis Hagmann
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