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# taz.de -- Zehn Jahre Arabischer Frühling: Der nächste Sturm zieht auf​
> Vor zehn Jahren begann der Arabische Frühling, ein turbulentes Jahrzehnt
> in Nahost folgte. Diktatoren stürzten, doch alte Machthaber schlugen
> zurück.
Bild: Junge Ägypter verbreiten im Februar 2011 News der Proteste auf dem Tahri…
Kairo taz | Sie fuhren in einem Zug von der ägyptischen Hafenstadt
Alexandria durch das Nildelta, Muhammad Eid und Ahmad Samir, zwei junge
Straßenverkäufer. Muhammad bot normalerweise Malereien auf Holz oder Leder
feil. Aber an diesem Tag hatte der Regen seine Objekte zerstört. Er hatte
keine Einnahmen.
Als die beiden im Zug kontrolliert wurden, konnten sie keine Fahrkarten
vorweisen. Der Schaffner nannte ihnen drei Optionen: Sie bezahlen das
Ticket, er übergibt sie der Polizei oder sie springen aus dem fahrenden
Zug. Da sie nicht genug Geld hatten und Angst, der Willkür der Polizei
ausgeliefert zu sein, sprangen sie. Muhammad starb, als er neben den
Gleisen aufschlug, Ahmad verlor ein Bein. Das Ticket hätte umgerechnet 4
Euro gekostet.
Diese [1][Begebenheit] vom Oktober vergangenen Jahres ist symptomatisch
dafür, wo die arabische Welt heute, zehn Jahre nach Beginn des sogenannten
Arabischen Frühlings, steht. Die Selbstverbrennung des tunesischen
Straßenhändlers Mohammed Bouazizi hatte damals, am 17. Dezember 2010,
Aufstände in zahlreichen Ländern eingeläutet, in deren Folge der Diktator
Zine El Abidine Ben Ali in Tunesien stürzte, Husni Mubarak in Ägypten,
Muammar al-Gaddafi in Libyen und Ali Abdullah Saleh in Jemen.
Die anfänglichen Hoffnungen sind enttäuscht worden, wirtschaftliche und
soziale Fragen bleiben ungelöst, vielerorts sorgt nur ein brutaler
Repressionsapparat für Ruhe. Und nun setzt sich auf das Ganze noch die
[2][Coronakrise], deren wirtschaftliche und soziale Auswirkungen die
Probleme noch verschärfen werden.
Es ist ein scheinbar düsteres Fazit, das ein Jahrzehnt nach dem Aufstand
gezogen werden muss. Ägypten wird vom Militär regiert, in Syrien hat der
Diktator gewonnen, der nun über einen Scherbenhaufen regiert. Libyen
versinkt in einem blutigen Stellvertreterkrieg, genauso wie Jemen.
Und die ölreichen Golfstaaten werden autokratisch regiert wie eh und je.
Manche proklamieren da fast hämisch, dass nach dem Frühling der politische
Winter eingezogen sei. Allein in [3][Tunesien] wurde eine demokratische
Entwicklung eingeleitet.
Aber kann man politische Prozesse als Jahreszeiten erklären? Oder sind die
vergangenen zehn Jahre nicht Teil eines langfristigen Prozesses, in dem das
Rad aktuell zurückgedreht worden ist und arabische Autokraten sich zu einer
unheiligen Allianz zusammengetan haben?
Eine Allianz, die aus dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman,
seinem Amtskollegen in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Mohammed bin
Zayed, und dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi besteht.
Gemeinsam versuchen sie, eine regionale Pax Autocratica durchzusetzen.
## Von Europa hofiert
Als Garanten der Stabilität, als Antiterrorkämpfer und als Partner, um
Flüchtlinge davon abzuhalten, über das Mittelmeer zu kommen, werden diese
Autokraten auch von Europa hofiert. Derweil sind sie es, die keinerlei
politischen Spielraum zulassen und deren Gefängnisse Brutstätten der
Militanz sind, die Terror schneller schaffen, als sie ihn bekämpfen können.
Sie sind es, die mit ihren Konflikten einen guten Teil der Flüchtlinge
produzieren. Europa hat nicht verstanden, dass die arabischen Autokraten
nicht die Lösung, sondern ein großer Teil des Problems sind.
Aber die arabische Pax Autocratica bekommt zunehmend Gegenwind. Das
antidemokratische Regieren, die Misswirtschaft und die Korruption werden in
vielen Teilen der arabischen Welt infrage gestellt. Repression
funktioniert, das haben die Jahre nach der Arabellion bewiesen.
Aber sie hat auch ein Ablaufdatum, wenn die drängendsten Probleme vor allem
der jüngeren Generation, die immerhin 60 Prozent der arabischen Bevölkerung
ausmacht, nicht gelöst sind. Deren völlige Perspektivlosigkeit bedeutet,
dass viele kaum ihren Lebensunterhalt sichern, geschweige denn ihren
Träumen nachgehen können.
## Zeit des Übergangs
In seinem Film „Leiter nach Damaskus“ beschreibt der syrische Filmemacher
Mohammed Malas das Leben einer WG in der syrischen Hauptstadt zu Beginn des
Aufstands gegen Baschar al-Assad. Das 2013 produzierte Drama zeigt die Zeit
des Übergangs, als die idealistischen jungen Bewohner realisieren, dass
ihre Hoffnung auf friedlichen Wandel von [4][Assads Kerkern und
Folterkammern] zunichte gemacht wird.
In der ersten Szene blickt ein junger Student in die Kamera und sagt: „Ich
lebe in einem Land, das mir nichts gibt und das mir alles genommen hat.“ Es
ist ein Satz, der mitten ins Herz einer ganzen Generation trifft und der
auf die gesamte arabische Welt zutrifft.
Unsere arabische Nachbarschaft ist ein Unruheherd, aber woher kommt diese
Instabilität? Ist der Islam schuld? Diese Sicht ist in Mode gekommen und
hat eine ganze Reihe deutschsprachiger Bestseller hervorgebracht, die die
arabische Welt mit Koranzitaten zu erklären suchen.
Oder hat die Unruhe vielmehr ihre Wurzeln in den sozialen und
wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen die Mehrheit der Araberinnen und
Araber lebt, oder in der Art, wie sie regiert werden?
## Neue Protestwelle
Statt des Korans sollte das unselige arabische Dreigespann analysiert
werden, das Zusammenspiel von Armut, Ungleichheit und Machtlosigkeit, das
Menschen zu stillschweigenden Besiegten, brutalen Terroristen oder
verzweifelten Flüchtlingen macht – oder sie, wie in letzter Zeit wieder
vermehrt, voller Wut und Leidenschaft mutig auf die Barrikaden steigen
lässt: Im Jahr [5][2019 brachten Massenproteste in Sudan und in Algerien
die Diktatoren Omar al-Baschir und Abdelaziz Bouteflika zu Fall, während in
Libanon und Irak eine neue Protestwelle begann.]
In ihrem [6][Arab Multidimensional Poverty Report 2017] hat die Unescwa,
eine UN-Organisation, zehn bevölkerungsreiche arabische Länder untersucht,
ausgenommen die ölreichen Golfstaaten. Demnach lebt ein Viertel der
Bevölkerung in multidimensionaler Armut.
Aber die Studie geht noch weiter und stuft weitere 41 Prozent als
„verwundbar“ ein. Vier von zehn Menschen in diesen Ländern sind also in
Gefahr, in Armut abzustürzen. Eine Familie wird als verwundbar und
armutsbedroht charakterisiert, wenn ihr Einkommen gerade einmal die
grundlegendsten Dinge des Lebens finanzieren kann und jeder Einschnitt im
Einkommen oder jede Erhöhung von Preisen sie in Armut stürzen kann. In
Summe bedeutet das, dass zwei Drittel der Bevölkerung entweder in Armut
leben oder Gefahr laufen, in diese abzugleiten.
Die Massenarmut hat auch zur Folge, dass der Nahe Osten weltweit die Region
mit der größten Ungleichheit ist. Das hat das sogenannte World Inequality
Lab 2018 in einer Studie festgestellt, in der zum ersten Mal Daten von
Einkommen und Reichtum der Bevölkerung für die Jahre 1990 bis 2016
gesammelt und ausgewertet wurden. Um George Orwells berühmtes Zitat auf den
Kopf zu stellen: Weltweit sind alle ungleich, aber manche sind ungleicher –
und der Nahe Osten schlägt hier alle Rekorde.
## Einfache Rechnung
Dieses massenhafte Ausgeschlossensein ist einer der wichtigsten Faktoren
für die Instabilität des Nahen Ostens. Milizen und Terrororganisationen
rekrutierten in den letzten Jahrzehnten mithilfe des sozialen Unfriedens
Anhänger. Die Rechnung ist einfach: Je mehr Menschen am wirtschaftlichen
Wachstum teilnehmen, desto stabiler und friedlicher ist eine Gesellschaft.
Der Nahe Osten ist der Umkehrschluss dieser These.
Adel Abdellatif, der Hauptautor des [7][UN Arab Human Development Report],
fasste es gegenüber der taz in einem einzigen Satz zusammen: „Fortschritt
ist, wie viele Menschen du in dein Zelt hinein nehmen kannst. Wenn zu viele
draußen stehen, zerstören sie dein Zelt.“ Kein Wunder also, dass auf die
erste Protestwelle 2010/2011 im vergangenen Jahr eine weitere folgte.
Die Autokraten befinden sich langfristig in der Defensive. Je stärker sie
die repressiven Schrauben anziehen, desto mehr Menschen entfremden sich von
dem System und suchen nach einem Raum, ihren Ärger loszuwerden. Die
entscheidende Frage lautet: Wer lernt schneller: die Repression oder die
Rebellion?
Mitten in diesem Wettlauf ist nun die Pandemie ausgebrochen, die alle
Ursachen, die die Menschen vorher schon auf die Straße getrieben haben,
noch verschärft. Vielen Araberinnen und Arabern wird sie endgültig die Luft
zum Atmen nehmen, nicht nur als Krankheit, sondern noch mehr wegen der
wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen.
## Keine Hinnahme des Status quo
George Floyds Hilferuf „I can’t breathe“ ist eine tägliche arabische
Erfahrung der Repression, aber auch der sozialen Machtlosigkeit. Die
[8][Explosion im Hafen von Libanons Hauptstadt Beirut] am 4. August war
hier ein Kulminationspunkt. Staatliche Fahrlässigkeit und Inkompetenz
hinterlassen die Menschen fassungslos. Die Katastrophe ist ein Sinnbild für
die Krise der gesamten Region.
Der Nahe Osten ist eine Ansammlung gescheiterter Staaten und ungelöster
Krisen. Die politischen Systeme stehen mit der Coronakrise auf noch
tönerneren Füßen als zuvor. Es ist eine Zeit, die viele Fragen aufwirft.
Eines aber ist sicher: Waren die zehn Jahre nach der ersten Arabellion eine
turbulente Zeit, werden die nächsten Jahre in der Region stürmisch werden.
Vor allem die jüngere Generation wird [9][den Status quo nicht
widerstandslos hinnehmen]. Der Wettlauf zwischen Repression und Rebellion
wird weitergehen, brutal und leidenschaftlich, rücksichtslos und stur. Die
einen haben ihre Macht, die anderen fast nichts mehr zu verlieren.
16 Dec 2020
## LINKS
[1] https://egyptindependent.com/passenger-dies-after-jumping-off-train-for-not…
[2] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746
[3] /Zehn-Jahre-Arabische-Revolution/!5734107
[4] /Syrisches-Folteropfer-ueber-Prozess/!5703338
[5] /Aufstaende-in-Nordafrika-und-Nahost/!5647452
[6] https://ophi.org.uk/arab-multidimensional-poverty-report-2017/
[7] http://www.arab-hdr.org/
[8] /Nach-Ruecktritt-der-Regierung/!5702092
[9] /Arabischer-Fruehling-in-Syrien/!5734007
## AUTOREN
Karim El-Gawhary
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