Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Protestbewegung in Algerien: Nordafrikas Vorreiter
> In Algerien brachten Massenproteste 2019 den Machthaber Abdelaziz
> Bouteflika zu Fall. Trotz Corona geht der Aufstand noch immer weiter.
Bild: Demonstrierende in Algier im November 2019
Tunis taz | Im Februar 2019 war es wieder so weit. Algeriens Jugend hatte
genug von der autoritären Herrschaft des Regimes in Algier und zog auf die
Straße. Und wie. Nach jahrelanger Lethargie war die Gesellschaft wieder
erwacht. Lautstark, hartnäckig und konsequent friedlich zogen sechs Wochen
lang täglich [1][Hunderttausende Menschen] durchs Land und forderten den
Rücktritt von Präsident Abdelaziz Bouteflika. Dieser beugte sich im April
dem Druck der Straße und [2][trat nach 20 Jahren an der Macht endlich
zurück].
Die Protestbewegung Hirak [3][demonstrierte jedoch munter weiter]. Ein
kosmetischer Personalwechsel an der Staatsspitze reichte ihr nicht. Sie
wollte und will bis heute das gesamte „System“ stürzen und fordert einen
echten Neuanfang. Bis März 2020 gingen die Proteste ununterbrochen weiter,
jäh [4][ausgebremst durch die Coronakrise]. Seither ist die Bewegung in
der Defensive, denn das Regime geht im Windschatten der Pandemie
systematisch gegen den Hirak vor. Hunderte Oppositionelle und
Aktivist*innen wurden seither verhaftet, vor Gericht gezerrt oder zu
Haftstrafen verurteilt.
Doch das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Der Hirak lauert weiter auf
ein Ende der Pandemie und will die Proteste – sein wirksamstes Druckmittel
gegen das Regime – schnellstmöglich neu beleben. Das Regime und der Ende
2019 in einem manipulierten Urnengang neu „gewählte“ Präsident
[5][Abdelmadjid Tebboune] genießen kaum Legitimität im Land, klammern sich
aber mit allen Mitteln an die Macht.
In der internationalen Öffentlichkeit – in Europa, aber auch der arabischen
Welt – wurde der Hirak 2019 aufmerksam verfolgt und für seine konsequent
friedlichen Protestformen gelobt. Aber er wurde auch belächelt: Das Land
sei spät dran für den Arabischen Frühling, hieß es immer wieder. In der Tat
war es 2011 in Algerien relativ ruhig geblieben. Angespornt von den
Aufständen in Tunesien und Ägypten zogen auch 2011 Demonstrant*innen durch
die Straßen, doch der Funke sprang nicht über.
## Pionier in Sachen revolutionärer Praxis
Aber ist Algerien wirklich der Nachzügler, der acht Jahre länger brauchte,
um einen Aufstand zu wagen? Oder waren nicht vielmehr Tunesien und Ägypten
spät dran damit, mittels Massenprotesten ihre Regime ins Wanken zu bringen
und selbstbewusst soziale Gerechtigkeit und politische Freiheiten
einzufordern?
Tatsächlich folgt Algerien einem anderen Rhythmus als seine Nachbarn, darf
sich aber als Pionier in Sachen revolutionärer Praxis in der Region
bezeichnen. Denn Algeriens erster Massenaufstand brach bereits 1988 aus.
Eine Wirtschaftskrise hatte damals das Fass zum Überlaufen gebracht und
einen Aufstand ausgelöst. Der Versuch, ihn gewaltsam niederzuschlagen,
schlug fehl. Das Regime zog die Reißleine und initiierte eine demokratische
Öffnung. Die Wahlen 1990/91 gewann jedoch die auf der revolutionären Welle
schwimmende Islamische Heilsfront (FIS), eine radikalislamische Partei, die
das Land kräftig umkrempeln wollte.
Schon 1992 machte die Armee dem „demokratischen Experiment“ ein Ende und
putschte sich gewaltsam zurück an die Macht. Das nun unangefochten
herrschende Militär ging brutal gegen die FIS vor und legte so das
Fundament für den Bürgerkrieg der 90er Jahre, der bis heute nicht adäquat
aufgearbeitet wurde und die Gesellschaft nachhaltig traumatisiert hat.
Kein Wunder also, dass die Proteste in Algerien 2011 ins Leere liefen. Die
Erinnerungen waren noch zu frisch, die Angst vor einem neuen Krieg war zu
groß. 2019 aber war die Zeit wieder reif.
Algeriens Jugend hatte jedoch aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und
auch die Aufstände in der Region 2011 aufmerksam verfolgt. Der Hirak setzt
auch deshalb auf Gewaltlosigkeit und etablierte eine Protestkultur, die als
Blaupause für die gesamte Region dienen könnte. Obwohl das Regime bis heute
die Zügel in der Hand hält, hat der Hirak eindrucksvoll gezeigt, wie man
mit konsequent friedlichen Mitteln ein autoritäres System auch langfristig
unter Druck setzen kann.
19 Dec 2020
## LINKS
[1] /Massenproteste-in-Algerien/!5577517
[2] /20-jaehrige-Amtszeit-in-Algerien-endet/!5585397
[3] /Ein-Jahr-Aufstand-in-Algerien/!5661413
[4] /Arabische-Proteste-machen-Corona-Pause/!5674391
[5] /Algerien-nach-der-Wahl/!5646143
## AUTOREN
Sofian Philip Naceur
## TAGS
Abdelaziz Bouteflika
Zehn Jahre Arabischer Frühling
Protest
Algerien
Abdelaziz Bouteflika
Zehn Jahre Arabischer Frühling
Algerien
Algerien
Algerien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Protestbewegung in Algerien: Der „Hirak“ formiert sich neu
Nach einem Jahr Zwangspause meldet sich Algeriens Protestbewegung zurück.
Tausende gingen am Montag gegen das Militär auf die Straße.
Zehn Jahre Arabischer Frühling: Der nächste Sturm zieht auf​
Vor zehn Jahren begann der Arabische Frühling, ein turbulentes Jahrzehnt in
Nahost folgte. Diktatoren stürzten, doch alte Machthaber schlugen zurück.
Algerien als Partner Deutschlands: Entwicklungshilfe gegen Migration
Algerien gilt jetzt als privilegierter Partner Deutschlands – trotz der
Menschenrechtslage. Ein „verheerendes Signal“, kritisiert die Opposition.
Verfassungsreform in Algerien: Neue Verfassung, neue Hoffnung
Nur ein Viertel der Wahlberechtigten in Algerien hat sich an dem Votum über
eine neue Verfassung beteiligt. Der Protestbewegung gibt das Aufwind.
Pressefreiheit in Algerien: Zwei Jahre Haft für Journalisten
Wie kein anderer berichtete er über die regimekritische Bewegung Hirak. Nun
hat ein Gericht Khaled Drareni zu zwei Jahren Haft verurteilt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.